Orientierungslos

Obwohl wir seit Jahrzehnten die Umweltprobleme und viele L?sungen kennen, passiert wenig. Wieso bewegt sich nicht mehr, fragt Christoph Küffer.

Christoph Küffer

Eine Kernaufgabe der Umweltwissenschaften ist die Analyse der Systemzusammenh?nge und die Innovation von technischen L?sungen. Wir haben dabei viel erreicht: Wir verstehen globale Umweltprobleme wie den Klimawandel, und wir dokumentieren, wie die Biodiversit?t weltweit schwindet und wie dies die Lebensqualit?t gef?hrdet.

Viele L?sungen sind bekannt: erneuerbare Energien, ?kologische Landwirtschaft oder St?dte, die erfolgreich auf Velo- statt Autoverkehr setzen. Wir wissen auch, wie wir unser eigenes Leben nachhaltiger gestalten k?nnten: weniger Konsum, weniger Flugreisen, weniger Fleisch, mehr langlebige Produkte.

Wegweiser im Wald
In Bezug auf die Umwelt und unser Verh?ltnis zur Natur fehlt uns die Orientierung, sagt Christoph Küffer. (Bild: iStock / Kerrick)

Eine kulturelle Krise

Trotzdem passiert wenig. Ein wichtiger Grund ist meiner Meinung nach, dass wir Umweltprobleme zu oft als Probleme der Umwelt statt als Probleme des Menschen verstehen. Dabei geht es vorab um den Menschen.

Wir sind orientierungslos geworden. Wer ?kologisches Handeln fordert, ist schnell ein Moralist ohne Verst?ndnis für die ?konomischen Zusammenh?nge. Wer vom Schutz der Natur spricht, macht sich l?cherlich in einer Zeit, in der ?kosysteme scheinbar unaufhaltbar degradieren. Derweil wetteifern Veganer, ?kotouristen, technologische Zukunftsoptimisten, Freizeitbuddhisten und Hundeversteher um die einzig ?wahre? Beziehung zur Natur.

Mitten drin

Man k?nnte argumentieren, dass es an den Sozial- und Geisteswissenschaften liegt, diese kulturelle Krise zu meistern. Meine Erfahrung ist jedoch, dass gerade die Naturwissenschaften mitten drin stecken.

Das Buch, welches mein Selbstverst?ndnis als Wissenschaftler im letzten Jahr am St?rksten pr?gte, ist die vierb?ndige ?Neapolitanische Saga? von Elena Ferrante. Die Erz?hlerin im Buch, eine Schriftstellerin und Intellektuelle, wird in ein sozial benachteiligtes und von M?nnermacht dominiertes Viertel von Neapel geboren. Sie befasst sich beruflich ein Leben lang mit sozialer Gerechtigkeit und Feminismus und muss ihre Rolle im spannungsgeladenen Verh?ltnis zwischen Privatleben und wissenschaftlicher Arbeit immer wieder neu verhandeln.

Ich habe realisiert, dass auch ich als Naturwissenschaftler nicht mehr darauf hoffen kann, ich k?nnte mich aus der sicheren Distanz des Elfenbeinturms auf die objektive wissenschaftliche Bearbeitung von Umweltthemen beschr?nken, ohne meine eigene Rolle zu reflektieren.

Meine Forschung ist nicht wertfrei

Alle wissenschaftlichen Fragen, welche mich aktuell als ?kologe besch?ftigen, sind stark von kulturell bestimmten Naturbildern und pers?nlichen Werthaltungen gepr?gt: Sind ?fremde? Pflanzen aus anderen L?ndern, sogenannte Neophyten, ein Problem? Macht es Sinn, ?Invasionen? von solchen ?nicht einheimischen? Arten energisch mit Glyphosat zu bek?mpfen? Sollte es dafür Sonderbewilligungen entlang von Flüssen, in W?ldern und in Naturschutzgebieten geben – überall dort wo Herbizide streng verboten sind?

?Im Kern ist die Umweltkrise eine gesellschaftliche Krise der Orientierungslosigkeit.?Christoph Küffer

Sollen wir priorit?r seltene Arten retten oder h?ufige Arten f?rdern (siehe Beitrag)? K?nnen wir vom Menschen gest?rte ?kosysteme ?renaturieren?, oder müssen wir neue ?kosysteme ?designen? (siehe Beitrag)? Geh?rt die Natur aufs Land statt in die Stadt? Oder sind nur St?dte, in welchen sich Natur und Technologien vermischen, zukunftsf?hig?

Umweltgeisteswissenschaften als Chance

Im Kern ist die Umweltkrise eine gesellschaftliche Krise der Orientierungslosigkeit. Zum Glück wurde dies inzwischen erkannt. Das weltweit wachsende Forschungsfeld der ?Umweltgeisteswissenschaften? bringt Naturwissenschaftler mit den Geisteswissenschaften und der Kunst zusammen, um einen andersartigen Zugang zu Umweltproblemen zu entwickeln (siehe Kasten).

Für die Umweltgeisteswissenschaften sind die Geschichte einer Gesellschaft, ihre Sprache, ihre kulturell gewachsenen Denkmuster und Konzepte wie Gerechtigkeit oder Verantwortung die Schlüsselelemente, aufgrund derer Umweltprobleme neu betrachtet und fassbar werden k?nnen.

Diese Sichtweise erm?glicht auch mir als Naturwissenschaftler bessere Arbeit: Egal, ob ich mich mit Neophyten, Naturschutz oder Nachhaltigkeit besch?ftige – ohne die st?ndige Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte dieser Themen, mit der dafür verwendeten Sprache oder den Reaktionen von Künstlerinnen und Laien auf meine wissenschaftlichen Themen betreibe ich unreflektierte Forschung.

Für mich ist die aktuelle Explosion von Ideen und Projekten in den Umweltgeisteswissenschaften eines der spannendsten Laboratorien und eine grosse Hoffnung für eine ?kologische Zukunft.

Environmental Humanities

Die ?Umweltgeisteswissenschaften? sind eine internationale Bewegung von Kulturwissenschaftlerinnen, Künstlern, Umweltwissenschaftlerinnen und Vertretern indigener Kulturen, die einen Beitrag zur L?sung der Umweltkrise leisten wollen.

Sie setzen dazu auf erz?hlerische und künstlerische Formate und kulturelle Vielfalt. Auch in der Schweiz1,2. Die Aktivit?ten reichen von interaktiven Kunstprojekten3, Filmfestivals4 und Theaterproduktionen5 bis zu spontane Aktionen wie einem Slam Poetry Abend6. Neue Forschungszentren7 zeigen eine rege Publikationst?tigkeit8 und bringen mitunter regelrechte ?Big Science?-Grossveranstaltungen9 hervor.

Referenzen

1 Küffer: Arbeitsgruppe Envirionmental Humanities

2 Environmental Humanities Switzerland externe SeiteEH-CH

3 Blogbeitrag Klimagarten

4 Global Eco Film Festival externe SeiteLink

5 Eine Tragikom?die über das Klima und den Erdball: externe SeiteKosmokoloss

6 Blogbeitrag Narrating the Anthropocene

7 Zum Beispiel das externe SeiteRachel Carson Center in München, oder das KTH externe SeiteEnvironmental Humanities Laboratory in Stockholm

8 Portal externe SeiteEnvironment and Society

9 externe SeiteAnthropocene Curriculum

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