Die europäische Datenmisere und die personalisierte Medizin

Es ist für die pharmazeutische und medizinische Forschung in Europa schwierig, an relevante Patientenda?ten zu gelangen. Ernst Hafen skizziert einen m?glichen Ausweg.

Ernst Hafen

Die Pharmafirma Roche übernahm im vergangenen Jahr für 1,9 Milliarden Dollar Flatiron Health, einen grossen amerikanischen Anbieter von IT-L?sungen im Gesundheitsbereich1. Roche erh?lt damit Zugang zu Daten von Krebspatienten. Das britische Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline kaufte derweil für 300 Millionen Dollar Anteile an der amerikanischen Firma 23andme, welche Gentests anbietet und entsprechend menschliche Genomprofile besitzt2.

Diese Gesch?fte zeigen, wie verzweifelt Pharmaunternehmen Zugang zu relevanten medizinischen Daten suchen. Sie m?chten dank dieser Daten neue Medikamente entwickeln, die Behandlung von Patienten effektiver gestalten und personalisieren. Dass die Firmen die ben?tigten Daten in den USA finden, l?sst sich mit dem dortigen marktorientierten Gesundheitsdatenmodell erkl?ren.

Die personalisierte Medizin nutzt die grossen Mengen an Gesundheitsdaten, um auf einzelne Patienten massgeschneiderte Therapien zu entwickeln. (Grafik: Shutterstock)
Die personalisierte Medizin nutzt die grossen Mengen an Gesundheitsdaten, um auf einzelne Patienten massgeschneiderte Therapien zu entwickeln. (Grafik: Shutterstock)

In Europa ist es für die Forschung und die Industrie extrem viel schwieriger, Zugang zu Gesundheitsdaten zu erhalten. Es herrscht hier eine eigentliche Datenmisere. In vielen europ?ischen L?ndern werden Gesundheitsdaten nicht zentral verwaltet, sondern sie sind oft in zueinander inkompatiblen Datenformaten auf unabh?ngigen IT-Systemen gespeichert. Zurecht erschweren ausserdem strenge Datenschutzgesetze deren Nutzung ohne die explizite Einwilligung der Personen selbst.

Krankenakten nicht zug?nglich

Vorbilder in Europa sind nordische L?nder wie D?nemark, die traditionell über ausgezeichnete elektronische Krankenakten verfügen, die auch für die Forschung verwendet werden. Auch Estland hat in den letzten zehn Jahren ein modernes System eingerichtet für E-Government und elektronische Krankenakten. Grossbritannien initiierte das 100'000 Genomes Project, mit dem es die Forschung der personalisierten Medizin f?rdert3. Die britischen Versuche, Krankenakten des nationalen Gesundheitsdienstes NHS für die Forschung zug?nglich zu machen, waren allerdings weniger erfolgreich und wurden nach Kritik in den Medien gestoppt. Das Hauptproblem war, dass die die Patienten unzureichend über das Projekt informiert waren4.

In der Schweiz will die Initiative Swiss Personal Health Network (SPHN) Daten aus verschiedenen Spitalsystemen harmonisieren und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, sofern Patienten dem zustimmen. Angesichts der Fragmentierung der kantonalen Gesundheitssysteme und der Vielzahl unterschiedlicher IT-Systeme in den Spit?lern, ist dies eine gewaltige Aufgabe. Zudem erschwert in der Schweiz die Gesetzgebung die Nutzung der Daten: Das neue Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier zielt auf einen verbesserten Austausch der Daten innerhalb des Gesundheitssystems ab. Eine Zweitnutzung der Daten, zum Beispiel für Forschungszwecke, ist auch mit der Zustimmung des Patienten nicht vorgesehen.

?Wir stehen in Konkurrenz mit dem marktorientierten Gesundheitsdatenmodell der USA und dem staatlich kontrollierten Modell Chinas.?Ernst Hafen

Es gibt einen Ausweg

Wir in Europa und der Schweiz mit unseren fragmentierten Gesundheitssystemen und den starken Datenschutzgesetzen stehen in Konkurrenz mit dem marktorientierten Gesundheitsdatenmodell der USA und dem staatlich kontrollierten Modell Chinas. Wenn wir keinen Weg finden, um in diesem internationalen Wettbewerb zu bestehen, müssen sich die europ?ischen Spit?ler, so wie Roche heute, auf L?sungen der künstlichen Intelligenz von amerikanischen und chinesischen Unternehmen verlassen. Ausserdem k?nnten pharmazeutische Unternehmen mittelfristig ihre Forschungszentren und sogar ihren Hauptsitz in L?nder verlegen, in denen Gesundheitsdaten zug?nglicher sind.

Ein Ausweg aus dieser Abh?ngigkeit liegt im Vertrauen Europas in die Autonomie seiner Bürger und in der neuen europ?ischen Datenschutzgrundverordnung, nach welcher die Bürger ein Recht haben auf eine Kopie aller ihrer personenbezogenen Daten, ob medizinisch oder nicht-medizinisch.

Mit einer Kopie all ihrer pers?nlichen Daten erhalten Personen eine neue einzigartige Macht. Nur sie k?nnen ihre Daten aus ihren Smartphones, Patientenakten mit Einkaufsdaten und Genomdaten zusammenbringen. In der Aggregation dieser verschiedenen Datentypen liegt der Wert der Daten für die personalisierte Pr?vention und Behandlung. Die Person selbst sollte entscheiden, wem sie Zugang zu diesen aggregierten Daten gibt. Dies versetzt die europ?ischen Bürger und Bürgerinnen in eine starke Position. Damit sie diese ausspielen k?nnen, braucht es jedoch einen neuen Rahmen, in dem die Bürger die Kopien ihrer personenbezogenen Daten sicher speichern, zusammenführen und den Zugang kontrollieren k?nnen.

Zugang zu aggregierten Datens?tzen

Die Schweiz ist gut positioniert, um einen solchen Rahmen zu schaffen. Einige der weltweit führenden Experten für Datensicherheit und Cloud Computing forschen und lehren an der ETH sowie an weiteren Schweizer Universit?ten. Starke Datenschutzbestimmungen und eine stabile demokratische Regierung tragen dazu bei, Vertrauen aufzubauen. Forscher der ETH Zürich und der Berner Fachhochschule haben gemeinsam die nicht-profitorientierte Midata-Personaldatengenossenschaft initiiert, die eine Datenplattform betreibt, auf der Personen Kopien all ihrer Daten speichern k?nnen, auch jene von mobilen Sensoren in Smartphones5. Die Personen haben die volle Kontrolle darüber, wem sie die Daten zug?nglich machen.

?ber solche Plattformen k?nnen Forschende und interessierte Unternehmen wie Roche und GlaxoSmithKline nicht nur Zugang zu beschr?nkten Teilmengen von Daten erhalten, sondern zu umfassend aggregierten Datens?tzen. Die finanziellen Gewinne gehen dabei nicht an die Aktion?re von Flatrion oder 23andme. Im Falle von Midata gehen Einnahmen aus solchen Datenzugriffen an die Midata-Genossenschaft und damit an die Gesellschaft zurück.

Wenn wir die Voraussetzungen schaffen, dass die Bürger in Europa ihr Recht auf eine Kopie ihrer Daten einfordern, ihre Daten für pers?nlich gew?hlte Dienstleistungen verwenden und der Forschung zur Verfügung stellen k?nnen, haben wir die M?glichkeit, die derzeitige Datenmisere in ein demokratisch kontrolliertes Daten?kosystem zu verwandeln – zum Nutzen der personalisierten Medizin und der Gesellschaft als Ganzes.

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