Ausgang: Lymphe

ETH-Wissenschaftler widerlegten ein jahrzehntealtes Dogma: Gehirnflüssigkeit verl?sst den Hirnraum nicht via Blutgef?sse, sondern via Lymphsystem. Diese Erkenntnis hat eine weitreichende Bedeutung für neue Behandlungsmethoden gegen Demenzerkrankungen.

Gehrin
Der Liquor verl?sst den Gehirnraum via Nervenbahnen (hier in Gelb), vor allem entlang des Seh- und des Riechnervs. (Grafik: Springer Medizin / Science Photo Library)

Unser Gehirn schwimmt. Es ist vollst?ndig umspült von einer w?ssrigen Flüssigkeit, dem Liquor. Tag für Tag entsteht in Hirnventrikeln des Menschen rund ein halber Liter neuer Liquor, wobei die Flüssigkeit aus dem Blut stammt. Und Tag für Tag muss diese Menge andernorts den Gehirnraum wieder verlassen. Wie Forschende aus der Gruppe von Michael Detmar, Professor für Pharmacogenomics, nun in einer Studie bei M?usen zeigen konnten, verl?sst der Liquor den Gehirnraum via die Lymphgef?sse. Damit wiesen die ETH-Forschenden dem Lymphsystem eine neue zentrale Bedeutung zu, und sie widerlegten ein mehrere Jahrzehnte altes Dogma. Die Wissenschaftler ver?ffentlichten ihre Erkenntnisse in der jüngsten Ausgabe des Fachmagazins externe SeiteNature Communications.

Wie Liquor den Gehirnraum verl?sst, war bislang n?mlich ungenügend erforscht. Bekannt war, dass dafür sowohl der Weg über Lymphgef?sse als auch jener über Blutgef?sse – die Venen – zur Verfügung stehen. Lange Zeit, und mangels genauer Untersuchungen bis heute, nahmen Wissenschaftler an, dass der Abflussweg über die Venen der weitaus bedeutendere sei.

Anatomielehrbücher umschreiben

Die Forschenden unter der Leitung von Steven Proulx, Oberassistent in der Gruppe von ETH-Professor Detmar, konnten diese Annahme nun widerlegen. Sie injizierten winzige fluoreszierende Farbstoffmoleküle in die Ventrikel (Hohlr?ume) des Gehirns von M?usen und beobachteten, auf welchem Weg diese Moleküle den Gehirnraum verlassen. Dazu untersuchten sie mit einem nicht-invasiven Bildgebungsverfahren die Blutgef?sse und das Lymphsystem in der K?rperperipherie der Tiere. Wie sich zeigte, befanden sich die Farbstoffmoleküle bereits nach einigen Minuten in den Lymphgef?ssen und den Lymphknoten ausserhalb des Gehirns. In den Blutgef?ssen konnten die Forschenden so kurz nach der Injektion keine Moleküle feststellen.

Auch den genauen Weg der Farbmoleküle und des Liquors konnten die Forschenden bestimmen: Der Liquor verl?sst das Gehirn entlang von Nervenbahnen – vor allem entlang des Seh- und des Riechnervs. ?Einmal im Gewebe ausserhalb des Gehirns angelangt, wird er von den das Gewebe durchziehenden Lymphgef?ssen abtransportiert?, erkl?rt Qiaoli Ma, Doktorandin in Detmars Gruppe und Erstautorin der Studie.

Ob ein geringer Anteil des Liquors das Gehirn nicht doch – wie bisher angenommen – via Venen verl?sst, k?nnen die Wissenschaftler nicht komplett ausschliessen. Aufgrund ihrer Forschungsergebnisse zeigen sie sich jedoch überzeugt, dass der L?wenanteil des Liquors den Weg via Lymphe nimmt und dass Anatomielehrbücher umgeschrieben werden müssen.

Spülsystem für das Gehirn

Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Liquorzirkulation eine reinigende Funktion hat. ?Anderswo im K?rper beseitigt das Immunsystem Giftstoffe. Das Gehirn ist von diesem System jedoch weitgehend abgekoppelt, nur die wenigsten Immunzellen haben Zugang?, erkl?rt Proulx. ?Der Liquor springt hier in eine Bresche. Indem er kontinuierlich zirkuliert, spült er das Gehirn und transportiert unerwünschte Stoffe weg.?

Diese Spülfunktion k?nnte ein Ansatzpunkt sein für die Behandlung von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer. Die Alzheimer-Krankheit wird durch falsch gefaltete Proteine, die sich im Gehirn ablagern, verursacht. Wie Proulx und seine Kollegen spekulieren, k?nnten diese falsch gefalteten Proteine durch eine – zum Beispiel – medikament?se Anregung des Lymphflusses abtransportiert werden. Ebenso k?nnte untersucht werden, ob durch eine Beeinflussung des Lymphflusses auch Entzündungskrankheiten des Zentralnervensystems wie zum Beispiel der Multiplen Sklerose beizukommen ist.

Liquor-Umsatz im Alter geringer

Ausserdem konnten die Wissenschaftler zeigen, dass bei alten M?usen viel weniger Liquor aus dem Gehirn fliesst als bei jüngeren M?usen, mutmasslich, weil im Alter auch weniger Liquor produziert wird. Da Alzheimer und andere Demenzerkrankungen im Alter auftreten, ist es laut den Forschenden umso interessanter zu untersuchen, ob eine Stimulierung des Liquortransports das Fortschreiten von Demenzerkrankungen verlangsamen k?nnte. Diese Frage m?chten die ETH-Wissenschaftler als n?chstes im Mausmodell angehen.

Dass es Krankheiten gibt, die sich durch eine Stimulation des Lymphflusses behandeln lassen, hat die Gruppe von ETH-Professor Detmar bei Krankheiten ausserhalb des Gehirns bereits gezeigt: Bei Polyarthritis und Schuppenflechte erzielten die Forscher im Mausmodell eine Linderung der Symptome, wenn sie den Lymphfluss anregten.

St?rker im Blickfeld

Sp?ter w?ren Untersuchungen zum Lymphfluss auch bei Menschen denkbar, sagen die Wissenschaftler. Das verwendete fluoreszierende Markermolekül l?st keine Immunreaktion aus und wird vom K?rper ausgeschieden. Bevor das Molekül in Menschen verwendet werden kann, müssten die Wissenschaftler aber noch eine entsprechende Zulassung beantragen.

?Die Erforschung des Lymphsystems erhielt bis vor kurzem nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient h?tte. Teile der Wissenschaftswelt haben das Lymphsystem sogar ignoriert?, sagt Proulx. Nachdem die ETH-Wissenschaftler nun eine weitere wichtige Aufgabe des Lymphsystems aufzeigen konnten, hoffen sie, dass es st?rker ins Blickfeld der wissenschaftlichen Forschung rücken wird.

Literaturhinweis

Ma Q, Ineichen BV, Detmar M, Proulx ST: Outflow of cerebrospinal fluid is predominantly through lymphatic vessels and is reduced in aged mice. Nature Communications, 10. November 2017, doi: externe Seite10.1038/s41467-017-01484-6 

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