115'000 Jahre Eiszeit in zwei Minuten

Ein internationales Forscherteam rekonstruiert mit einem Computermodell die Geschichte der Vergletscherung der Alpen und macht sie in einer zweiminütigen Computeranimation sichtbar. Die Simulation soll helfen, die Mechanismen der Vergletscherung besser zu verstehen.

Vergr?sserte Ansicht: Heute sind nur noch die hohen Alpengipfel und ihr Umfeld - im Bild der Piz Palü im Oberengadin (rechts der Bildmitte) - vergletschert. (Bild: Peter Rüegg)
Heute sind nur noch die hohen Alpengipfel und ihr Umfeld - im Bild der Piz Palü im Oberengadin (rechts der Bildmitte) - vergletschert. (Bild: Peter Rüegg)

Vor rund 115'000 Jahren begann die letzte Kaltzeit der Erdgeschichte – und damit eine wechselvolle Zeit, in der Gletscher aus den Alpen wiederholt ins Mittelland vorstiessen, sich zurückzogen und wieder ausdehnten. Dabei hobelten die gewaltigen Eisstr?me T?ler wie das Rhonetal aus und schoben das Gesteinsmaterial – von feinem Sediment bis zu mehreren tausend Tonnen schweren Felsbl?cken – mit sich mit. Dieses ?Geschiebe?, abgelagert als sogenannte Mor?nen, formt heute das hügelige und grüne Alpenvorland. Die tonnenschweren Bl?cke, als Findlinge bekannt, sind verstreut im Mittelland, in Alpent?lern oder im Jura zu finden.

Gletscherentwicklung simuliert

Doch obwohl Naturforscher und Wissenschaftler die Geschichte der Eiszeitgletscher der Alpen seit nahezu 300 Jahren erforschen, ist es ihnen bis heute nicht gelungen, eindeutig zu kl?ren, welche Klimaentwicklungen zu den grossr?umigen Vergletscherungen führten, was die Ausdehnung der Gletscher kontrollierte, wie dick ihr Eispanzer gewesen ist, wie h?ufig sich die Eisschilde ausdehnten und wieder zurückzogen und was die Ursache dafür war, dass sich das Eis je nach Alpenregion unterschiedlich stark ausdehnte.

Um dies alles besser zu verstehen, simulierte Julien Seguinot von der Versuchsanstalt Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich zusammen mit Forscherkollegen auf dem CSCS-Supercomputer ?Piz Daint? die Gletscherentwicklung w?hrend der vergangenen 120'000 Jahre in den Alpen. Die Studie ist kürzlich in der Fachzeitschrift ?The Cryosphere? erschienen.

Für die Simulationen der Gletscherentwicklung und der Ausbreitung des Eises nutzten sie ein spezielles Modell (Parallel Ice Sheet Model (PISM)), das sie mit Daten der anf?nglichen Topographie von Gebirgen und Gletschern fütterten, der physikalischen Eigenschaften von Gestein und Gletscher, teilweise basierend auf Beobachtungen aus der Antarktis und Gr?nland, und Daten des W?rmefluss’ im Erdinneren sowie der klimatischen Bedingungen. Die Grundlagen für letzteres lieferten unter anderem aktuelle Wetterdaten kombiniert mit Pal?o-Klimadaten aus Sediment- und Eisbohrkernen der vergangenen 120'000 Jahre.

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Vorstoss und Rückzug der Alpengletscher w?hrend der letzten Kaltzeit

Mehr Vorst?sse als angenommen

Die Wissenschaftler führten die Simulationen mit drei unterschiedlichen Pal?o-Klimadatens?tzen sowie zwei verschiedenen Niederschlagsszenarien durch.

Nur einer der Klimadatens?tze lieferte Resultate, die mit den geologischen Belegen übereinstimmen, welche die Gletscher in Gestein und Sediment hinterlassen haben. Das Ergebnis dieser Simulation zeigt, dass sich die Gletscher der Alpen ?fter ausbreiteten und wieder zurückzogen als bisher angenommen. Lange Zeit gingen Glaziologen von mindestens vier Vorst?ssen aus. Diese niedrige Zahl wurde seit den 1980er-Jahren jedoch mehrfach infrage gestellt. Die Simulation zeigt nun, dass sich einige Alpengletscher in den vergangenen 120'000 Jahren bis zu mehr als zehn Mal ausbreiteten und wieder zurückzogen.

Gem?ss dem Modell dehnten sich die Gletscher vor rund 25'000 Jahren am st?rksten aus und drangen bis ins Alpenvorland vor: In der Schweiz bis etwa nach Bern, Zürich und in den Bodenseeraum bis nach Schaffhausen, im angrenzenden Deutschland fast bis nach München. Die Kaltzeit ging dann im Laufe von einigen Tausend Jahren allm?hlich in die heutige Warmzeit über – auch das ist im Video ersichtlich. Kalt- und Warmzeiten wechseln sich in einem Eiszeitalter ab. Grunds?tzlich befindet sich die Erde momentan in einem Eiszeitalter. Das ist immer der Fall, wenn mindestens einer der Pole von Eis bedeckt ist.

Untersch?tzte Eism?chtigkeit

Aus einer detaillierten Analyse einer weiteren Simulation, die die Vergletscherung der vergangenen 120'000 Jahre bis auf einen Kilometer aufl?st, zogen die Forscher den Schluss, dass das Eis w?hrend dem H?chststand der Vereisung viel dicker gewesen sein muss als bis anhin vermutet: Im oberen Rhonetal beispielsweise bis zu 800 Meter dicker.

Die Forscher r?umen Unsicherheiten in den Ergebnissen ein, verursacht durch die vereinfachte Beschreibung der Prozesse zwischen Gletscher und Gletscherbett sowie der Klimabedingungen. Für Seguinot lag die Schwierigkeit bei der Simulation jedoch vor allem in der Interpretation der vorhandenen Daten: Karten von Gletscherspuren wie Mor?nen, Findlingen und der Richtung des Eisflusses, die über die vergangenen 300 Jahren gesammelt wurden. ?Computermodelle wie PISM auf Supercomputern wie ‘Piz Daint’ zu berechnen, erm?glicht uns die Rekonstruktion der Vergletscherungsgeschichte in einer nie dagewesenen Aufl?sung?, sagt Seguinot. Um solche Resultate zu validieren, br?uchte es aber mehr systematisch in digitalen Karten und über Landes- und Sprachgrenzen hinweg erfasste Daten.

Simone Ulmer ist Redaktorin Wissenschaft und Technologie am externe SeiteCSCS, wo dieser Artikel zuerst publiziert wurde.

Literaturhinweis

Seguinot, J, Ivy-Ochs, S, Jouvet, G, Huss, M, Funk, M, and Preusser, F: Modelling last glacial cycle ice dynamics in the Alps, The Cryosphere (2018), 12, 3265-3285, externe Seitedoi:10.5194/tc-12-3265-2018

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