Arbeitsunterbrechungen führen zu körperlichem Stress
Mit einem Experiment in einem simulierten Grossraumbüro haben ETH-Forschende erstmals nachgewiesen, dass der K?rper verst?rkt Stresshormone ausschüttet, wenn die Arbeit immer wieder unterbrochen wird. Doch den psychologischen, bewusst empfundenen Stress erh?hen sie nicht in gleichem Masse.
Beinahe ein Drittel der Arbeitnehmenden in der Schweiz erlebt arbeitsbedingten Stress, wie dem Job-Stress-Index 2020 der Stiftung Gesundheitsf?rderung Schweiz zu entnehmen ist. Wenn sich dieser Stress chronifiziert, kann er zu Ersch?pfungszust?nden führen, die sich nachteilig auf die ?ffentliche Gesundheit auswirken und grosse wirtschaftliche Folgekosten verursachen.
Digitales Frühwarnsystem als Ziel
Um diesen Ersch?pfungszust?nden zuvorkommen zu k?nnen, arbeitet am Mobiliar Lab für Analytik der ETH Zürich ein interdisziplin?res Team an einem digitalen Frühwarnsystem, das im Büroalltag mithilfe von Methoden des maschinellen Lernens in Echtzeit Stress erkennen soll. ?Dazu wollten wir in einer ersten Etappe herausfinden, wie sich die Auswirkungen von sozialem Druck und Arbeitsunterbrechungen – zwei der h?ufigsten Stressoren am Arbeitsplatz – messen lassen?, sagt die Psychologin Jasmine Kerr. Sie treibt das Projekt gemeinsam mit der Mathematikerin Mara N?gelin und dem Computerwissenschaftler Raphael Weibel voran.
Nun berichten die drei Doktoranden – alle zusammen als Erstautoren – in der Fachzeitschrift ?externe Seite Psychoneuroendocrinology? über ihre soeben abgeschlossene Studie. ?ber eine universit?re Plattform haben sie 90 Teilnehmende rekrutiert, die sich bereit erkl?rten, an einem knapp zweistündigen Experiment teilzunehmen. Für den Versuch haben Kerr, N?gelin und Weibel das Decision Science Laboratory der ETH Zürich in drei Grossraumbüros verwandelt. An jedem Arbeitsplatz stand ein Stuhl, ein Computer mit Bildschirm – und das Zubeh?r für die Entnahme von Speichelproben.
Denn w?hrend die Teilnehmenden – als Angestellte einer imagin?ren Versicherung – typische Büroarbeiten verrichteten, also etwa handschriftlich ausgefüllte Formulare abtippten oder Termine von Versicherungsberatenden mit ihren Kunden vereinbarten, interessierten sich die Forschenden für ihre psychobiologischen Reaktionen. An insgesamt sechs Zeitpunkten gaben die Studienteilnehmenden auf Frageb?gen an, wie gut oder schlecht gelaunt sie gerade waren, ein mobiles EKG-Ger?t mass durchgehend ihren Herzschlag. Und im Speichel bestimmten die Forschenden die Konzentration des Stresshormons Kortisol.
Kandidaten für eine Bef?rderung
Für ihr Experiment teilten die Forschenden die Teilnehmenden in drei Gruppen ein, die unterschiedlichem Stress ausgesetzt waren. Zwar hatten alle Gruppen die gleiche Arbeit zu verrichten. Und in der Mitte des Versuchs kriegten auch alle Teilnehmenden Besuch: Zwei Schauspieler traten als Mitarbeitende der Personalabteilung der Versicherung auf. W?hrend sie die Teilnehmenden in der Kontrollgruppe einen Verkaufsdialog vorlesen liessen, gaben die Schauspieler in den beiden Stressgruppen vor, unter den Teilnehmenden die geeignetsten Kandidaten für eine Bef?rderung zu suchen.
Die beiden Stressgruppen unterschieden sich dadurch, dass die Teilnehmenden in der ersten Stressgruppe ihre Arbeiten nur jeweils für die Speichelentnahmen auf die Seite legten. Aber die Teilnehmenden der zweiten Stressgruppe mussten zus?tzliche Arbeitsunterbrechungen in Kauf nehmen, wenn sie Chatnachrichten ihrer Vorgesetzten erhielten, in denen diese dringenden Auskünfte verlangten.
Fast doppelt so viel Kortisol
Die Auswertung der Daten zeigte, dass auch eine Konkurrenzsituation um eine frei erfundene Bef?rderung ausreicht, um den Herzschlag in die H?he zu treiben und das Stresshormon Kortisol freizusetzen. ?Die Teilnehmenden der zweiten Stressgruppe schütteten aber fast doppelt so viel Kortisol aus wie diejenigen der ersten Gruppe?, sagt Mara N?gelin. Und Raphael Weibel erg?nzt: ?Bisher wurden Arbeitsunterbrechungen meist nur hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Arbeitsleistung und Produktivit?t erforscht. Mit unserer Studie zeigen wir erstmals, dass sie sich auch auf die Menge des freigesetzten Kortisols – und also tats?chlich auch auf die biologische Stressreaktion – auswirken?.
?berrascht waren die Forschenden von dem subjektiv wahrgenommenen, also dem psychologischen Stress. Sie stellten fest, dass sich die Teilnehmenden der zweiten Stressgruppe mit Chat-Unterbrechungen als ruhiger und besser gelaunt einsch?tzten als die Teilnehmenden der ersten Stressgruppe ohne Chat-Unterbrechungen. Interessanterweise bewerteten sie die Situation zwar als gleich herausfordernd, aber weniger bedrohlich als die erste Stressgruppe. Die Forschenden vermuten dabei, dass die zus?tzlichen Arbeitsunterbrechungen über die Kortisolfreisetzung mehr k?rperliche Ressourcen mobilisierten und dass dadurch die emotionale und kognitive Stressbew?ltigung unterstützt wurde. Zudem ist es m?glich, dass die Arbeitsunterbrechungen die Teilnehmenden von der bevorstehenden sozialen Stresssituation ablenkten, wodurch sie weniger Bedrohung und folglich weniger Stress empfanden.
Literaturhinweis
Kerr JI, Naegelin M, Weibel RP, Ferrario A, La Marca R, von Wangenheim F, Hoelscher C, Schinazi VR. The effects of acute work stress and appraisal on psychobiological stress responses in a group office environment. Psychoneuroendocrinology (2020). doi: externe Seite 10.1016/j.psyneuen.2020.104837