Die Schwerkraft der Träume

Wer nachts den Sternenhimmel betrachtet, erahnt wom?glich, womit sich Lavinia Heisenberg beruflich befasst. Heisenberg ist Kosmologin. Ihr Forschungsgebiet ist das Weltall und was darin vorkommt, seien das nun sichtbare oder dunkle Materie, Licht oder Energie, Teilchen oder Wellen, K?rper oder Kr?fte. Ihr Interesse gilt dabei nicht einzelnen Planeten, einem Sonnensystem oder einer Galaxie wie unsere Milchstrasse eine ist. Ihr Forschungsdrang richtet sich vielmehr auf ganze Galaxienhaufen und auf die Naturkr?fte, die etwas ¨¹ber die Entstehung und den Aufbau des Universums aussagen.

Zuweilen erf¨¹llt Lavinia Heisenberg ein alles ¨¹berw?ltigendes Gef¨¹hl, wenn sie die Milliarden von Galaxien am Himmel sieht. ?Neugier f¨¹hrte mich in die Kosmologie?, berichtet Heisenberg auf dem 365ÌåÓýÖ±²¥_365ÌåÓýͶע-¾º²ÂÍøͶ H?nggerberg. ?Es gibt so viel Unbekanntes da draussen. Am liebsten w¨¹rde ich einfach immer weiter das Weltall erkunden.?

Aufregende Zeiten, r?tselhafte Kr?fte

Die Zeiten sind f¨¹r eine Physikerin, die wie Heisenberg die Wechselwirkung zwischen Teilchenphysik und Kosmologie untersucht, durchaus aufregend: zwei grosse Entdeckungen haben die Forschungsm?glichkeiten entscheidend erweitert. Im Juli 2012 wurde am CERN mit dem Higgs-Boson ein neues Teilchen entdeckt. Im September 2015 gelang die erste Messung, dass es tats?chlich Gravitationswellen gibt. Die Gravitationswellen er?ffnen zus?tzliche Erkenntnism?glichkeiten, sagt Heisenberg mit der ihr eigenen Zuversicht: ?Alle Information, die wir bisher ¨¹ber das Universum hatten, stammten von Photonen, also vom Licht. Jetzt k?nnen wir auch Gravitationswellen beobachten. Das ist so als ob wir bis anhin v?llig blind im Dunkeln tappten, und nun k?nnen wir die Welt wirklich in all ihren Farben sehen.?

Die Schwerkraft ist eine Schl¨¹sselgr?sse in ihrer Forschung. ?In den Tiefen des Kosmos dominiert die Schwerkraft. Wer die Natur des Universums beschreiben m?chte, muss die Gravitation verstehen?, begr¨¹ndet sie, ?wer die pr?zise Messung von Gravitationswellen mit der Beobachtung des Lichts kombiniert, erh?lt neue Einsichten ¨¹ber die Natur der Gravitation.? Bis heute ist es nicht gelungen, sie restlos zu erkl?ren. Die Erkl?rungsans?tze, die die Welt im Grossen, also im Weltall, beschreiben, erkl?ren die Schwerkraft anders als die Erkl?rungsans?tze, die die Welt im Kleinen beschreiben, also im Innersten der Atomkerne.

Diese Erkl?rungsunterschiede gehen auf die beiden grossen theoretischen Errungenschaften der Physik des 20. Jahrhunderts zur¨¹ck: die Relativit?tstheorie und die Quantenmechanik. Dass man sie bis heute nicht auf einheitliche Weise mit einer einzigen Theorie erkl?ren kann, macht die Gravitation zur geheimnisvollsten der vier Grundkr?fte der Physik. Die Grundkr?fte bestimmen das Verhalten von K?rpern, Feldern, Teilchen und Systemen. Die anderen drei sind die schwache Wechselwirkung, die starke Wechselwirkung und der Elektromagnetismus.

Vielen Perspektiven, stabile L?sungen

Charakteristisch f¨¹r Heisenbergs Herangehensweise ist, dass sie Schwerkraft aus verschiedenen Perspektiven untersucht: Wie ein Teleskop gibt jede Theorie einen anderen Blickwinkel auf die Wirklichkeit frei. Aus diesen Perspektiven gewinnt Heisenberg neue Erkenntnisse ¨¹ber die wesentlichen und grundlegenden Eigenschaften der Schwerkraft. ?Wir verbinden die verschiedenen Interpretationen der Gravitation, um stabile L?sungen f¨¹r die Probleme der Allgemeinen Relativit?tstheorie zu finden?, erg?nzt sie. F¨¹r ihre detaillierte Analyse der Schwerkraft im Licht der klassischen und der Quantenphysik sowie entsprechenden Folgerungen auf astrophysikalische, kosmologische und teilchenphysikalische Experimente hat Lavinia Heisenberg nun den Latsis-Preis der ETH Z¨¹rich gewonnen. Dieser wird ihr am ETH-Tag 2020 verliehen.

Heisenbergs multidisziplin?rer Ansatz verbindet Gravitationsphysik, Kosmologie, Teilchenphysik und computergest¨¹tzte Astrophysik. Als theoretische Physikerin f¨¹hrt sie keine Experimente im Labor oder in Teilchenbeschleunigern durch. Sie arbeitet mit Schreibstift und Notizbuch und macht Berechnungen am Computer. Mathematik ist ihr wichtigstes Werkzeug. Die G¨¹te ihrer Theorien misst sich daran, wie sehr die mathematischen Gleichungen die Daten aus teilchenphysikalischen Experimenten oder aus kosmologischen und astrophysikalischen Beobachtungen erkl?ren k?nnen.

Im Fluss: Beethoven, Bouldern, Bogenschiessen

Der multidisziplin?re Ansatz spiegelt sich in der Zusammensetzung ihres Teams und in der Art, wie sie unterrichtet. Heisenberg ist ein Teamplayer und die Diskussion offener Fragen ist ihr wichtig: ?Der Austausch mit meinem Team und den Studierenden bereitet mir grosse Freude.? Freude sei das beste Mittel, um Entt?uschungen und Belastungen auszugleichen.

Weiteren Ausgleich findet Lavinia Heisenberg beim Laufen, Klettern, Konditionstraining oder Bogenschiessen und bei T?tigkeiten, die hohe Konzentration erfordern: ?Beim Bogenschiessen muss ich sehr darauf achten, wie ich mich hinstelle, damit der Pfeil sein Ziel trifft. In solchen Momenten bin ich ganz im Hier und Jetzt ¨C und denke weder ¨¹ber die Vergangenheit nach noch sorge ich mich um die Zukunft.? In der Forschung erlebt sie ebenfalls solche befl¨¹gelnden Momente v?lliger Vertiefung, in denen sie voll und ganz in der jeweiligen Besch?ftigung aufgeht. Halt in schwierigen Zeiten findet sie in der Musik, namentlich in den Symphonien Ludwig van Beethovens.

Vielseitig wie ihre Forschung ist Heisenbergs Werdegang: Von Kindheit an lebte sie in verschiedenen L?ndern, ?und in jedem Land lerne ich die Sprache.? Sechs Sprachen spricht sie heute, darunter deutsch. An die ETH kam sie als Fellow des Instituts f¨¹r Theoretische Studien. 2018 erhielt sie einen ?ERC Starting Grant?, den nur die besten Forschenden erhalten, und wurde zur Assistenzprofessorin am Physikdepartement ernannt. Ihre Zukunft ist noch nicht geschrieben. Seit sie Kind war, tr?umt Heisenberg davon, Astronautin zu werden. Dieses Ziel spornt sie nach wie vor an: ?Einmal m?chte ich die Erde aus diesem Blickwinkel sehen. Es muss ein erstaunliches Gef¨¹hl sein, die Erde in ihrer ganzen Verletzlichkeit zu erkennen.?