«Die ETH ist keine Fernhochschule»
Der Notbetrieb hat viel ver?ndert. Homeoffice, Online-Unterricht, virtuelle Veranstaltungen: Was wir vor ein paar Monaten noch erst in Ans?tzen umsetzten, wurde zum Alltag. Gerd Kortemeyer, Leiter der Abteilung Lehrentwicklung und –Technologie, spricht über seine Erfahrungen im Notbetrieb, darüber, wie die optimale Mischung aus Online- und Pr?senzlehre aussieht und was vom Lockdown bleibt.
Welche Erfahrungen haben Sie w?hrend des Notbetriebs gemacht?
Die Umstellung auf digitale Lehre in kurzer Zeit war eine grosse Herausforderung. Der Druck wurde aber durch mehrere Faktoren bedeutend abgeschw?cht. Einerseits mussten wir uns dank der hervorragenden technischen Infrastruktur nie Sorgen um einen Systemausfall machen. Vor allem aber spürten wir eine grosse institutionsübergreifende Solidarit?t, die uns sehr viel Stress nahm. Dozierende, Studierende, Supportdienste und die Schulleitung haben an einem Strang gezogen. Und wenn mal etwas schief lief, war die Toleranz auf allen Seiten gross.
Wie bewerten Sie die Umstellung auf die digitale Lehre an der ETH?
Grunds?tzlich bin ich positiv überrascht. Unsere Erhebungen zeigen, dass die Umstellung sehr gut geklappt hat: 95 Prozent der Kurse konnten erfolgreich durchgeführt, die restlichen Veranstaltungen, insbesondere Labors, mehrheitlich nachgeholt werden. Studierende und Dozierende haben die digitalen Veranstaltungen in Umfragen sehr gut bewertet, und die Notenverteilung bei den Prüfungen entsprach dem normalen Bild.
Gr?sstenteils wurde die traditionelle Form der H?rsaallehre weitergeführt, allerdings in digitaler Form. Das ist eine pragmatische L?sung und das, was kurzfristig am besten funktioniert hat, wenn auch oft mit enormem Aufwand. Gerade dass diese Umstellung so erfolgreich war, sollte jedoch auch ein Denkanstoss sein.
Wie meinen Sie das?
Die Pr?senzlehre ist pl?tzlich weggefallen und trotzdem war der Lernerfolg, gemessen an Prüfungen, am Ende vergleichbar. So war es auch an anderen Hochschulen. Daraus l?sst sich ableiten, dass in der Pr?senzlehre noch viel ungenutztes Potenzial steckt. Die einseitige ?bertragung von Wissen, wie es in einer klassischen Frontalvorlesung geschieht, kann auch digital geschehen. Die Pr?senzzeit k?nnte somit verst?rkt für Lehrtechniken genutzt werden, die auf Interaktion basieren, so wie dies an der ETH ja auch vor Corona mehrfach geschah. Vorlesungen geben und h?ren kann Spass machen, das wollen wir nicht verlieren, und ein gut ausgearbeiteter Vortrag wird immer inspirierend bleiben – aber vielleicht muss nicht eine ganze Stunde damit gefüllt werden. Es kommt auf die Mischung an.
K?nnen Sie die ideale Mischung von Online- und Pr?senzlehre beschreiben?
Die optimale Mischung ist synergetisch. Online- und Pr?senzlehre sind aufeinander abgestimmt: Durch Online-Auslagerung der reinen Wissensübertragung verschafft man sich mehr Zeit im H?rsaal, die dann auch aktivierend genutzt werden kann, etwa für Gruppenarbeiten oder eingestreute ?Clicker?-Fragen. Die Studierenden bereiten sich online auf die Pr?senzzeit vor, welche dadurch noch effektiver wird.
Im Herbstsemester ist die Pr?senzlehre stark eingeschr?nkt. Wird da dieses Ideal bereits verfolgt?
Wie nahe wir dem Idealbild dieser hybriden Form der Lehre schon im Herbstsemester kommen, h?ngt von verschiedenen Faktoren ab. Im Zentrum steht die Herausforderung, einen Weg zu finden, die eingeschr?nkte Pr?senzlehre so gewinnbringend wie m?glich zu nutzen. Der Aufbau ist sehr aufw?ndig und wird Dozierende wie Studierende fordern: Ihre Geduld ist also mitentscheidend. Vor allem aber ist eine synergetische Lehre auf Stabilit?t angewiesen, die Pr?senzzeit muss nach Plan stattfinden k?nnen. Die Gefahr ist, dass man, statt Synergie zu erreichen, am Ende die doppelte Energie aufwenden muss. Angesichts des ungewissen Pandemieverlaufs müssen wir hier ein m?glichst robustes Konstrukt finden.
Was bleibt vom Lockdown?
Der Notbetrieb war ein Aufwach-Moment: Er bringt uns dazu, unser Wertesystem neu zu denken. Dieser Prozess hat erst gerade begonnen. Es hat sich eine grosse Offenheit manifestiert, auch der Mut, unreflektierte Traditionen zu hinterfragen, und nicht zuletzt eine neue Wertsch?tzung der Pr?senzlehre. Die ETH ist keine Fernhochschule – wir sind stolz auf die vielen hochkar?tigen Forschenden, die bei uns lehren und mit den Studierenden interagieren. Langfristig müssen wir mehr in Onlineressourcen investieren, die die Pr?senzveranstaltungen optimal begleiten. Schliesslich hoffe ich, dass auch die spürbare Solidarit?t und der Optimismus bleiben werden. Denn das Herbstsemester wird eine grosse Herausforderung. Aber wenn wir sie meistern, kommen wir gest?rkt aus der Krise.