Ukrainischer ETH-Professor ist 68 Stunden unterwegs, um seine Mutter zu retten
ETH-?Professor Maksym Kovalenko fuhr mit dem Auto von Zürich nach Moldawien, um seine Mutter und Schwiegermutter aus der Ukraine in die sichere Schweiz zu bringen. Im Interview mit Intern aktuell spricht der gebürtige Ukrainer über seine 68-?stündige Fahrt und darüber, wie es ist, an der ETH zu arbeiten und zu lehren, w?hrend in seiner Heimat Krieg herrscht.
Maksym Kovalenko ist Professor für Chemie an der ETH Zürich. Er und seine Frau, die an der Empa forscht, wuchsen in der N?he der Stadt Czernowitz in der westukrainischen Region Bukowina auf. Als Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert, leben Kovalenkos 65 Jahre alte Mutter und seine 82 Jahre alte Schwiegermutter allein in der Gegend von Czernowitz. Beide sind gesundheitlich angeschlagen und ohne weitere Kinder oder Verwandte, die ihnen helfen k?nnen.
Wann haben Sie beschlossen, Ihre Mutter und Schwiegermutter zu retten?
Maksym Kovalenko: Als klar wurde, dass Russland die gesamte Ukraine angriff und nicht nur die Separatistengebiete im Osten, entschieden meine Frau und ich, dass wir sie rausholen mussten. Es bestand die Gefahr, dass sie bei einem Vorstoss der russischen Truppen in die Westukraine eines Tages abgeschnitten würden. Wir wussten, dass wir sie nicht allein in Czernowitz lassen konnten, auch wegen ihres gesundheitlichen Zustandes.
War Czernowitz bereits vom Krieg betroffen?
Zum Glück war Czernowitz eine der wenigen regionalen Zentren der Ukraine, die noch nicht bombardiert wurde. Aber uns war bewusst, dass sich das sehr schnell ?ndern konnte. Die Tatsache, dass die russische Armee nun gezielt Wohngebiete bombardiert, hat uns recht gegeben.
Wie haben Sie die Rettungsaktion geplant?
Ich rief meine Mutter am Freitagmittag an und sagte ihr, dass sie und meine Schwiegermutter die Ukraine sofort verlassen müssen. Sie war zun?chst schockiert und bestand darauf, sich zumindest von ein paar Freunden zu verabschieden, bevor sie ein paar Sachen und ihre wichtigsten Dokumente packen k?nne. Da die Grenze zwischen der Ukraine und Moldawien leichter zu passieren ist als die Grenze zu Rum?nien, beschlossen wir, die beiden in Moldawien abzuholen. Ein guter Freund der Familie brachte sie mit dem Auto von Czernowitz nach Costesti an der moldawisch-rum?nischen Grenze. Da der letzte Flug in die Ukraine kurz vor der Invasion gestrichen wurde, blieb mir nichts anderes übrig, als die 1.700 Kilometer nach Costesti mit dem Auto zu fahren.
Wann haben Sie Zürich verlassen?
Gemeinsam mit meinem Freund, dem Empa-Forscher Kostiantyn Kravchyk, der auch Ukrainer ist, verliess ich Zürich am Freitagabend gegen 20:00 Uhr. Wir wechselten uns am Steuer ab und fuhren praktisch nonstop durch Deutschland, ?sterreich, Ungarn und Rum?nien. Wir wollten so schnell wie m?glich bei meiner Mutter und Schweigermutter sein und legten nur kurze Pausen ein. Nach 25 Stunden Fahrt kamen wir am Samstag gegen 21:00 Uhr in Costesti an. Wir holten sie ab und machten uns sofort auf den Weg zurück nach Zürich.
Wie war es, wieder mit Ihrer Mutter und Schwiegermutter vereint zu sein?
Ich war sehr erleichtert, dass alles geklappt hat, wie geplant und dass es beiden gut ging.
Wie verlief die Reise zurück in die Schweiz?
Das erste Hindernis war der Grenzübergang von Moldawien nach Rum?nien. Wir mussten sieben Stunden warten, um einreisen zu k?nnen. Es gab einen riesigen Stau auf einer einspurigen Strasse. Wir kamen nur sehr langsam vorw?rts, etwa zehn Meter alle 15 Minuten. Jedes Auto wurde gründlich kontrolliert. Das Gleiche passierte uns an der ungarischen Grenze, wo wir acht Stunden warteten.
15 Stunden im Stau. Sie müssen v?llig ersch?pft gewesen sein.
Sie k?nnen sich gar nicht vorstellen, wie viel Hilfsbereitschaft wir an beiden Grenzen erlebt haben. Freiwillige und Leute vom Roten Kreuz verteilten Essen und Trinken an die Menschen in den wartenden Autos. Wir nahmen etwas Tee und Kaffee. An der moldawischen Grenze gab man uns sogar frisches, selbstgebackenes Brot, das mich an das Brot erinnerte, das meine Mutter für mich immer als Kind gebacken hat. Im Vergleich zu den vielen Menschen, die alles zurücklassen mussten, sind wir relativ glimpflich davongekommen.
Wann sind Sie in Zürich angekommen?
Wir kamen am Montagnachmittag nach 68-stündiger Fahrt um 16.00 Uhr in Zürich an. Mein Freund und ich wechselten uns wieder ab und sind Tag und Nacht durchgefahren. Ich war besorgt, dass es für meine Mutter und meine Schwiegermutter zu anstrengend werden k?nnte, aber sie konnten einigermassen auf dem Rücksitz schlafen. Beide waren fest entschlossen, so schnell wie m?glich in die Schweiz zu kommen.
Was haben Sie getan, als sie endlich daheim waren? Sind sie direkt ins Bett gefallen?
Nein, das hat noch etwas gedauert. Nachdem ich meine Mutter und meine Schwiegermutter zu Hause abgesetzt hatte, bin ich ins Büro gegangen: Wir hatten noch eine Departementssitzung und ein Treffen mit dem Schweizerischen Nationalfonds, bei dem es darum ging, wie die Schweizer Universit?ten ukrainische Wissenschaftler in der Schweiz und in der Ukraine unterstützen k?nnen.
Wie fühlt es sich an, wieder in Zürich zu sein, w?hrend ihre Heimat weiterhin angegriffen wird?
Ehrlich gesagt, wenn ich an all die tapferen ukrainischen M?nner und Frauen denke, die gerade unsere Heimat verteidigen, fühle ich mich schuldig, weil ich hier in Sicherheit bin und mein Leben nicht für mein Land riskiere. Obwohl es schwer ist, sich auf etwas anderes als den Krieg zu konzentrieren, geht das Leben weiter.
Wie wird ihr Leben in Zürich nun aussehen?
Ich betreue eine Forschungsgruppe mit mehr als 35 Wissenschaftler:innen und unterrichte mehrere Kurse. In meiner Gruppe gibt es derzeit sieben Doktorand:innen, einen Postdoc sowie sechs Gaststudenten aus der Ukraine. Sie sind natürlich alle sehr stark vom Krieg betroffen: Einige ihrer Familienmitglieder befinden sich in einer sehr schwierigen, lebensbedrohlichen Situation. Ich versuche meine ukrainischen Studierenden so gut wie m?glich zu unterstützen. Es ist beeindruckend, wie sie zusammenhalten, an Anti-Kriegs-Demonstrationen teilnehmen, Spenden sammeln und dringend ben?tigte medizinische Hilfsgüter für die Ukraine organisieren. Und all dies, w?hrend sie ihre Forschungsprojekte fortführen. Ich bewundere sie für ihre St?rke.
Zur Person
Maksym Kovalenko ist seit 2011 Professor für funktionale anorganische Materialien an der ETH Zürich und der Leiter der Gruppe Funktionelle Anorganische Materialien an der Empa. Der gebürtige Ukrainer erhielt 2019 den R?ssler-Preis für seine Forschung zu leuchtenden Nanopartikeln.