Erdgas-Krisen verhindern

Europa kann eine erhebliche Verknappung der Erdgas-Lieferungen verkraften, vorausgesetzt die Verteilstrategie ist fair. In einem Modell zeigen ETH-Forscher, wie das Pipeline-Netz Ausfälle am besten abfedern kann.

Vergr?sserte Ansicht: Ergasleitung
Ergasleitungen sind ein wichtiger Teil der globalen Energieversorgung. (Bild: WestPic-Fotolia.com)

Das Szenario stammt aus einem James-Bond-Film: Die B?sewichte wollen mit einem Atombombenangriff im Bosporus erreichen, dass ein grosses Gebiet radioaktiv kontaminiert wird und nur noch ihre eigene Pipeline ?l vom Osten in den Westen transportieren kann. Was im Streifen ?Die Welt ist nicht genug? für Nervenkitzel sorgt, macht in der Realit?t berechtigt Angst. Terrorattacken auf die Energieversorgung wie beispielsweise der Angriff auf ein algerisches Gaswerk im Januar 2013 k?nnten im Prinzip eine Energiekrise ausl?sen. Aber auch Russland drosselte in der Vergangenheit mehrmals die Gaslieferungen, als sich das Land mit der Ukraine über den Gaspreis stritt. Und Grossbritanniens Gasreserven reichten am Ende des harten Winters 2013 nur noch für sechs Stunden, weil ein technischer Fehler eine wichtige Import-Pipeline lahmgelegt hatte.

Nadel?hre umgehen

Was passiert, wenn ein wichtiger Lieferant im europ?ischen Erdgasnetz pl?tzlich ausf?llt? Diese Frage untersuchten Dirk Helbing, ETH-Professor für Soziologie, und sein Team. Dazu sammelten sie Daten über die Bev?lkerungsdichte, die Grossstadt-Regionen, das Pipeline-Netzwerk, die Flüssiggas-Terminals und den j?hrlichen Gasfluss durch Europa. ?Wir haben mehrere Datens?tze, die zum Teil nur mühsam zu bekommen waren, miteinander kombiniert?, erkl?rt Helbing. Damit simulierten die Forschenden den Fluss des Erdgases unter verschiedenen Bedingungen. Ihre überraschende Erkenntnis: Wenn weniger Gas fliesst, bedeutet dies nicht weniger ?berlastung. Helbing erkl?rt: ?Das Pipeline-Netz ist nicht für diesen Fall konstruiert.? Wenn L?nder ihr Erdgas pl?tzlich auf anderem Wege beziehen, führt dies zu Engp?ssen in bestimmten Pipelines.

In ihrem Modell untersuchten die Forscher, wie sich die Nadel?hre am besten umgehen lassen. ?Man kann die Gasverteilung im Krisenfall nicht nur dem Markt überlassen?, sagt Helbing. Denn Verteilungsprobleme h?tten in der Geschichte schon oft zu politischen und gar milit?rischen Konflikten geführt. ?Europa muss in der Lage sein, so über die Runden zu kommen, dass die Industrie versorgt ist und man in den Wohnungen nicht erfriert?, so Helbing. Die L?sung der ETH-Forscher: Ein so genannter dezentraler Fairness-Algorithmus soll Engp?sse verhindern. Dabei liessen sich die Wissenschaftler vom Datenfluss im Internet inspirieren: Staufreie Verbindungen dürfen bis zu einer bestimmten Limite mehr oder weniger gratis genutzt werden. Aber sobald man das Netz überlastet, steigen die Kosten schnell an. ?Der Preis funktioniert als lokaler Steuerungsmechanismus?, erkl?rt Rui Carvalho, der seitens der Queen Mary University in London an der Studie mitarbeitete und nun an der Cambridge Universit?t forscht. Der Fairness-Mechanismus spornt die L?nder an, ihr Gas über die am wenigsten verstopften Wege zu leiten. Konkret müssen Sensoren an jeder Pipeline den Durchfluss messen.

?Man kann die Gasverteilung im Krisenfall nicht nur dem Markt überlassen.?Dirk Helbing, Professor für Soziologie, ETH Zürich

Im Krisenfall kooperieren

Fair ist dieses Verfahren, weil kein Land die Kosten selbst bestimmen kann. Da der Mechanismus dezentral funktioniert, ist er zudem weniger anf?llig für Angriffe, Verz?gerungen oder Kommunikationsst?rungen. Im Krisenfall müssten allerdings alle bereit sein, den Gürtel enger zu schnallen, sagt Helbing. Man muss sich zuvor auf den Fairness-Algorithmus einigen, damit die Kooperation funktioniert. Die Forscher ermittelten in ihrem Modell Gruppen von L?ndern, die bei ihren Gasimporten von den gleichen Exportl?ndern abh?ngig und damit in einer ?hnlichen Lage sind. ?So reduzieren wir eine riesige Zahl von Gaskonsumenten auf eine relativ kleine Zahl von Parteien, die w?hrend einer Versorgungskrise eine gemeinsame L?sung finden müssen?, schreiben die Forscher. Ihr Fazit: Mit Fairness und Kooperation ist das europ?ische Erdgasnetz gegenüber St?rungen besser gewappnet, als erwartet.

Vergr?sserte Ansicht: Ergasnetz
Das europ?ische Erdgasnetz. Das bestehende Netz ist blau dargestellt, die geplanten Pipelines rot. Die Bev?lkerungsdichte erscheint dunkelgrün, gr?ssere st?dtische Gebiete sind hellblau eingef?rbt. (Bild: ETH Zürich)

Die gr?ssten Auswirkungen hat ein Szenario, bei dem Russland wegf?llt. Der Gasfluss durch das europ?ische Netz würde um knapp einen Drittel sinken. Mit ihrem Modell untersuchten die Forscher, wie gut sich dieser Ausfall mit Gaslieferungen aus Norwegen und den Niederlanden kompensieren l?sst. Das Resultat: W?hrend L?nder wie die Schweiz oder Deutschland kaum mit Einbussen rechnen müssten, k?nnten Tschechien und die Slovakei ihren Gasbedarf dank Fairness und europ?ischer Kooperation immerhin noch bis zu 50 Prozent decken. In der Ukraine, dem Haupttransitland für russisches Gas, w?re die Situation allerdings nicht ohne weitere Massnahmen zu bew?ltigen.

Nachbarn profitieren am meisten

Die verschiedenen Szenarios zeigten einen weiteren überraschenden Effekt: L?nder wie Deutschland, die in neue Pipelines investieren, profitieren davon voraussichtlich weniger als einige ihrer kleineren Nachbarn wie die Schweiz. Generell verbessere der Bau der in Europa geplanten, neuen Pipelines die Folgen solcher hypothetischer Energiekrisen nur wenig, schreiben die Forscher. Wie so manche der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts k?nne das Problem der sicheren Energieversorgung nicht durch Technologie allein gel?st werden, sondern beinhalte soziale Herausforderungen, hier: die der fairen Kooperation.

Literaturhinweis

Carvalho R et al.: Resilience of natural gas networks during conflicts, crises and disruptions, PLoS ONE, Online-Publikation 12.M?rz 2014, doi: externe Seite10.1371/journal.pone.0090265

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