Milch, Mutterliebe und Methan
Kühe, die frisch gekalbt haben, sind anfälliger auf Krankheiten. Weshalb ihr Immunsystem in dieser Phase nicht optimal funktioniert, untersucht eine Doktorandin der ETH Zürich. Globe hat sie bei der Arbeit besucht.
Dieser Artikel erschien in Globe, Ausgabe
2/Juni 2014:
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G?be es auf dem Strickhof in Lindau-Eschikon einen Hahn, würde das Federvieh jetzt bestimmt kr?hen. Denn es ist noch früh an diesem verregneten Morgen. Der Tag auf dem Hof f?ngt allerdings nicht nur für die landwirtschaftlichen Mitarbeiter in aller Herrgottsfrühe an, sondern auch für Susanne Meese. Die Biologin ist Doktorandin bei Michael Kreuzer, Professor für Tierern?hrung, und macht heute Testmessungen mit drei tr?chtigen Kühen. Diese müssen einzeln in eine spezielle Kammer, in der ihr Energieverbrauch gemessen werden kann. ?Ich will herausfinden, wie sich die Energiebilanz vor und nach dem Kalben unterscheidet und wie sie das Immunsystem beeinflusst?, erkl?rt Susanne Meese.
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Doch im Moment sind die Versuchstiere noch im Stall bei ihren Artgenossinnen. Susanne Meese bereitet derweil die beiden Respirationskammern vor. Sie ?ffnet die schweren Flügeltüren. Dank ihnen lassen sich die Kammern sp?ter luftdicht schliessen. Frischluft str?mt dann nur noch kontrolliert durch ein Rohr ein, die Abluft wird in den Nebenraum zu verschiedenen Analyseger?ten geleitet.
Susanne Meese füllt in den Kammern Wasser und Heu auf, streut Stroh auf den Rost und schiebt Schubladen darunter, die sp?ter den Mist auffangen sollen. Weil die Kammern etwas h?her gelegen sind, muss Meese Holzpaletten anschleppen und damit eine kleine Treppe bauen. ?Jetzt sind die Kammern bereit. Wir k?nnen Sabine anrufen und Jutta holen?, sagt Meese. Sabine Rinderknecht ist Betriebsleiterin für Milchproduktion und Grossviehmast auf dem Strickhof, sie hilft heute beim Transport der Kühe zwischen Stall und Kammer. Jutta ist das erste Versuchstier.
Draussen regnet es mittlerweile in Str?men. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Latzhose in den Stiefeln, eilt Meese vom Nebengeb?ude über den Hof. Im Stall ist es trocken und warm, es riecht nach frischem Stroh – und erwartungsgem?ss nach Mist. Aus dem Radio dr?hnt L?ndlermusik. In zwei Reihen stehen links und rechts je rund 30 Kühe. Eine davon ist Jutta. Sabine Rinderknecht bringt das Holstein-Rind zum Aufstehen. Auch die beiden Nachbartiere müssen sich erheben. Zu gross w?re die Gefahr, dass Jutta sie mit einem unabsichtlichen Tritt verletzen k?nnte.
Zum Angew?hnen in die Kammer
Eigentlich müsste Jutta jetzt auf die Waage hinter dem Stall. Aber Meese verschiebt das Wiegen auf sp?ter, in der Hoffnung, es werde nach dem dreistündigen Aufenthalt der Kuh in der Kammer weniger regnen. Jutta scheint ein ruhiges Gemüt zu haben. Sie trottet friedlich über den Hof ins Nebengeb?ude. Vor der Eingangstür bleibt Jutta allerdings abrupt stehen. ?Diesen Ort kennt sie noch nicht?, flüstert Susanne Meese. ?Deshalb ist sie jetzt etwas verunsichert.?
Diese Irritation abzubauen, das ist genau das Ziel von heute. Denn Stress k?nnte die Messwerte beeinflussen. Jutta und die beiden weiteren Versuchstiere, Rahel und Ibiza, verbringen deshalb nur drei Stunden in der Kammer – zum Angew?hnen. Auch die Messungen finden nur zu Testzwecken statt. Erst in ein paar Wochen werden die drei tr?chtigen Kühe am Experiment teilnehmen und zum ersten Mal zwei ganze Tage in der Kammer verbringen.
Die beiden Begleiterinnen k?nnen Jutta dank beruhigenden Worten und sanftem Druck problemlos in die Kammer bef?rdern. Auf den letzten drei Metern l?sst Jutta allerding noch einen grossen Kuhfladen liegen. Ibiza, das dritte Versuchstier, wird sp?ter treffsicher draufstehen. Die Tür ist noch nicht einmal zu, da ist Jutta schon am Fressen. ?Das ist ein gutes Zeichen?, freut sich Susanne Meese. Das Heu in der Respirationskammer ist besonders lecker und so etwas wie Sonntagskost. Im Stall gibt es das nicht. ?Das gute Futter in der Kammer soll die Tiere positiv konditionieren?, sagt die Biologin.
Meese muss das Futter wiegen, bevor sie es in den Trog schüttet. Nur so weiss sie, wie viel Energie die Kühe aufnehmen. Zudem werden in der Respirationskammer der Verbrauch von Sauerstoff und der Ausstoss an Kohlendioxid und Methan gemessen. Aus diesen experimentellen Daten und Standardwerten l?sst sich berechnen, wie gross der Energieverbrauch des Tieres ist. Meese führt das zweit?gige Experiment mit jeder Kuh vier Mal durch. Fünf und zwei Wochen vor dem Kalben und zwei und zw?lf Wochen danach. Die verschiedenen Messtage kann sie anschliessend miteinander vergleichen.
Die Tür l?sst Meese noch offen, damit Rahel, das n?chste Versuchstier heute, ihre Artgenossin in der Kammer sieht. Das beruhigt sie. Denn Rinder sind keine Einzelg?nger. Deshalb spielt auch ein Spiegel in der Kammer die Anwesenheit einer zweiten Kuh vor. Im Gegensatz zu Jutta ist Rahel viel temperamentvoller. Sabine Rinderknecht braucht viel Kraft beim Führen. Auch Susanne Meese hat keine Berührungs?ngste. Sie ist auf einem Pferdegestüt aufgewachsen und den Umgang mit grossen Vierbeinern gewohnt. Die Kuh hat ausserdem ein Geschwür am Fuss. Es ist zwar harmlos und bereits am Ausheilen. Meese notiert es sich trotzdem. Die Infektion k?nnte ihre Daten beeinflussen. Denn die Doktorandin interessiert sich ja speziell für das Immunsystem der Tiere.
Aufopferung für Nachwuchs
Immer wieder kommt es vor, dass frischgebackene Muttertiere nach dem Kalben Infektionen und andere gesundheitliche Probleme haben. Zudem ist der Energieverbrauch in dieser Phase enorm. Nach der gut neunmonatigen Schwangerschaft zehren die Anstrengungen der Geburt und die Produktion von Milch an den Reserven. Die Jungforscherin untersucht deshalb, wie die negative Energiebilanz das Immunsystem schw?cht. Um ihre Hypothese zu testen, nimmt Meese den Kühen Blut ab und stellt damit im Labor der neuen Professorin Susanne Ulbrich Zellkulturen her. Dann fügt sie ein sogenanntes Mitogen bei. Diese Substanz mimt eine Infektion. Immunzellen aus dem Blut von Kühen, die frisch gekalbt haben, reagieren weniger stark auf das Mitogen als die Immunzellen aus dem Blut tr?chtiger Kühe. Meese untersucht mittels verschiedener Testreihen, warum das so ist. ?Damit das Kalb überlebt, muss die Mutter in die Milchproduktion investieren?, sagt Meese. Kommt hinzu, dass hochleistende Milchkühe bis zu sechsmal mehr Milch produzieren, als das Kalb zum ?berleben ben?tigen würde. ?Die Investition in die Milchproduktion kann auf Kosten der Immunreaktion gehen?, fasst Susanne Meese zusammen.
Die Doktorandin arbeitet also nicht nur in Latzhose und Gummistiefeln auf dem Bauernhof. Sie hantiert auch mit der Pipette im Labormantel an der Sterilbank. ?Ich mag die Abwechslung, die mir meine Doktorarbeit bietet?, sagt die Biologin, die von Angela Schwarm betreut wird.
Meese schliesst die Flügeltüren der Kammern und verschwindet im Computerraum nebenan. Dort kann sie Jutta und Rahel über Webcams beobachten. Sie startet die Messanlagen. Die Abluft aus den Kammern wird nun analysiert. Die Kurven von Sauerstoff, Kohlendioxid und Methan erscheinen auf dem Bildschirm. Am Monitor sieht Meese, dass bei Jutta nicht mehr viel Futter im Trog ist. Sie holt neues Heu. Jetzt muss sie seitlich durch eine Schleuse in die Kammer. Die grossen Türen dürfen nicht mehr ge?ffnet werden. Das würde die Testmessung st?ren.
Body Mass Index für Kühe
Draussen regnet es noch immer in Str?men. Die drei Stunden sind um. Jetzt kommt Susanne Meese nicht umhin, einen Umweg über die Waage zu machen, bevor Jutta wieder in den Stall zurück darf. Die Waage ist eine im Boden eingelassene Platte, so gross, dass man damit auch gut und gerne einen Lastwagen wiegen k?nnte. Das Gewicht bestimmt Susanne Meese mechanisch. Es braucht seine Zeit bis sie alle Hebelchen richtig eingestellt hat. Und Jutta will dabei nicht stillhalten. Immer wieder versucht sie, sich loszureissen. Kein Wunder. Welche Dame stellt sich schon freiwillig auf eine Waage. Vor allem, wenn diese am Ende un?charmante 790 Kilogramm anzeigt.
Neben dem Gewicht ist auch der sogenannte Body Condition Score ein wichtiges Mass für die Gesundheit eines Rindes. Eine Art Body Mass Index für Kühe. Susanne Meese beurteilt verschiedene Stellen des K?rpers, zum Beispiel, wie stark sich gewisse Knochen abheben. Je nach Ergebnis verteilt sie Punkte und bestimmt so den Score. Und da schneidet Jutta durchaus durchschnittlich ab. Auch wenn die gut drei viertel Tonnen für eine tr?chtige Kuh ein hohes Gewicht sind, ist Jutta schlicht und einfach ein grosses Exemplar mit breitem K?rperbau. ?Interessanter als die absoluten Zahlen sind für mich vielmehr deren Ver?nderungen im Laufe der Tr?chtigkeit oder in den Wochen nach der Geburt.? Denn der Grad des Gewichtsverlusts k?nnte ebenso einen Einfluss auf das Immunsystem haben.
Noch kann die Doktorandin keine abschliessende Aussage zu ihren Forschungsergebnissen machen. Zuerst muss sie noch mehr Daten sammeln. N?chste Woche ist Isabelle für die letzte Messung vor der Geburt an der Reihe, dann Fina, die ihr Kalb bereits geboren hat. Heute muss nur noch Ibiza zum ?ben in die Kammer, bevor in drei Wochen auch ihre vierteilige Versuchsreihe startet.
Es hat alles bestens geklappt heute. Jutta, Rahel und Ibiza sind nach erfolgreicher Eingew?hnung in der Respirationskammer wieder wohlbehalten im Stall bei ihren Artgenossinnen. Jetzt muss Susanne Meese nur noch putzen. Es ist im Lauf des Tages viel Mist angefallen und der liegt nicht nur in den dafür vorgesehen Auffangladen unter dem Rost. Auch das geh?rt zu einer ETH-Doktorarbeit.
Agrovet-Strickhof
Die ETH Zürich, die Universit?t Zürich sowie das Amt für Landschaft und Natur des Kantons Zürich planen am heutigen Standort des Strickhofs in Lindau-Eschikon ein gemeinsames Bildungs- und Forschungszentrum. Durch diese Kooperation k?nnen die drei Institutionen, die derzeit alle eigene Einrichtungen betreiben, Tierbest?nde und Infrastrukturen gemeinsam nutzen und von fachlichen Synergien profitieren. Die Kosten für die Ersatz- und Neubauten sollen je h?lftig vom Kanton und der ETH Zürich getragen werden. Der Baubeginn ist für 2015 geplant.