Vom Tabak zum Cyberholz

Wissenschaftler der ETH Zürich bauten ein Thermometer, das mindestens hundertmal empfindlicher ist als bisherige Temperatursensoren. Es besteht aus einem biologisch-synthetischen Hybridmaterial mit Tabakzellen und Nanor?hrchen.

Vergr?sserte Ansicht: Cyberwood
ETH-Wissenschaftler bauten aus Zellen der Tabakpflanze den mit Abstand empfindlichsten Temperatursensor. (Grafik: Daniele Flo / ETH Zürich)

Seit jeher l?sst sich die Menschheit von der Natur inspirieren, und sie ahmt diese nach, um neue Technologien zu entwickeln. Die Beispiele reichen vom Maschinenbau über die Pharmazie bis hin zu neuartigen Materialien. So sind Flugzeuge V?geln nachempfunden, und viele Medikamente haben ihren Ursprung in pflanzlichen Wirkstoffen. Forschende am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik gingen nun einen Schritt weiter: Um einen extrem empfindlichen Temperatursensor zu entwickeln, bedienten sie sich temperaturempfindlichen pflanzlichen Zellen. Allerdings ahmten sie nicht die Eigenschaften dieser Zellen nach, sondern entwickelten ein Hybridmaterial, das neben synthetischen Komponenten auch die pflanzlichen Zellen selbst enth?lt. ?Wir lassen die Natur für uns arbeiten?, fasst Chiara Daraio, Professorin für Mechanik und Materialien, den Ansatz zusammen.

So gelang es den Wissenschaftlern, den mit Abstand empfindlichsten Temperatursensor zu entwickeln, das heisst einen elektronischen Baustein, der seine Leitf?higkeit in Abh?ngigkeit mit der Temperatur ?ndert. ?Bei keinem anderen Sensor führen so geringe Temperaturschwankungen zu so grossen ?nderungen der Leitf?higkeit, unser Sensor reagiert mindestens hundertmal st?rker als die besten existierenden Sensoren?, sagt Raffaele Di Giacomo, Postdoc in der Gruppe von Daraio.

Wasser durch Nanor?hrchen ersetzt

Dass Pflanzen die ausserordentliche F?higkeit haben, bereits sehr geringe Temperaturunterschiede zu erkennen und darauf mit ?nderungen in der Leitf?higkeit ihrer Zellen zu reagieren, ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Pflanzen sind dabei besser als jeder menschgemachte Sensor.

Vergr?sserte Ansicht: Cyberwood
Cyberholz unter dem Rasterelektronenmikroskop, wo die holz?hnliche Struktur sichtbar wird. (Foto: Di Giacomo R et al. PNAS 2015)

Di Giacomo experimentierte mit Tabakzellen in Zellkultur. ?Wir stellten uns die Frage, wie wir diese Zellen in ein lebloses, trockenes Material überführen k?nnen, und zwar auf eine Weise, dass ihre temperatursensitiven Eigenschaften erhalten bleiben?, sagt er. Das Ziel erreichte der Wissenschaftler, indem er die Zellen in einem Medium wachsen liess, dass sehr kleine R?hrchen aus Kohlenstoff enthielt. Diese elektrisch leitenden ?Carbon Nanotubes? bildeten ein Netzwerk zwischen den Tabakzellen und waren ausserdem in der Lage, deren Zellwand zu durchdringen. Als Di Giacomo die so kultivierten Zellen trocknete, erhielt er ein holz?hnliches festes Material, das er Cyberholz nennt. Im Gegensatz zu Holz ist es wegen den Nanotubes elektrisch leitend, und interessanterweise ist diese Leitf?higkeit wie bei den lebenden Tabakzellen in Zellkultur temperaturabh?ngig und extrem empfindlich.

?Berührungsloser Touchscreen?

Wie Tests zeigten, kann dieser Cyberholz-Sensor warme K?rper sogar auf Distanz erkennen, zum Beispiel eine Hand, die sich dem Sensor auf wenige Dutzend Zentimeter n?hert. Die Leitf?higkeit des Sensors h?ngt dabei direkt von der Distanz der Hand zum Sensor ab.

Anwendungsm?glichkeiten für das Cyberholz gibt es nach Ansicht der Wissenschaftler viele. Sie denken etwa daran, einen ?berührungsloser Touchscreen? zu entwickeln, der sich über Gesten steuern l?sst. Die Gesten würden über mehrere Temperatursensoren erfasst werden. Ebenfalls m?glich w?ren W?rmebildkameras oder Nachtsichtger?te.

Geliermolekül Pektin in einer Schlüsselrolle

Die Wissenschaftler der ETH Zürich und ein Kollege der Universit?t Salerno, Italien, untersuchten nicht nur im Detail die Eigenschaften ihres neuen Materials, sondern auch dessen Wirkmechanismus. So fanden sie heraus, dass sowohl in den Tabakzellen in Kultur als auch im getrockneten Cyberholz  sogenannten Pektinen sowie geladenen Atomen (Ionen) Schlüsselrollen zukommen. Pektine sind Zuckermoleküle, die in der Zellwand von Pflanzen vorkommen und sich zu einem Gel vernetzen k?nnen, wobei diese Vernetzung temperaturabh?ngig ist. In diesem Gel sind auch Kalzium- und Magnesium-Ionen vorhanden. ?Mit zunehmenden Temperaturen nimmt die Vernetzung der Pektine ab, das Gel wird weicher, und die Ionen k?nnen sich freier bewegen?, erkl?rt Di Giacomo. Als Folge davon leitet das Material bei h?heren Temperaturen Strom besser.

Die Wissenschaftler haben den Sensor nun zum Patent angemeldet. In weiterer Arbeit entwickeln sie ihn nun weiter, so dass er nicht mit Pflanzenzellen, sondern im Wesentlichen nur mit Pektin und Ionen funktioniert. Auf diese Weise m?chten sie einen beweglichen, lichtdurchl?ssigen und biokompatiblen Sensor mit derselben extrem hohen Temperatursensitivit?t bauen. Ein solcher k?nnte in beliebige Formen gebracht und kostengünstig hergestellt werden, worin die Forschenden ganz neue Anwendungsm?glichkeiten sehen, unter anderem in der Biomedizin und in günstigen W?rmebildkameras.

Literaturhinweis

Di Giacomo R, Daraio C, Maresca B: Plant nanobionic materials with a giant temperature response mediated by pectin-Ca2+. PNAS 30. M?rz 2015, doi: externe Seite10.1073/pnas.1421020112

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