Wo bleiben die Fakten?

Es gibt kaum etwas, das zum Wahlkampf in den USA noch nicht gesagt wurde, und die Medien ¨¹berbieten sich st¨¹ndlich mit News, die angeblich Neues aber meist wenig Gehaltvolles bieten. Einige Monate Forschungsaufenthalt in Colorado mit t?glichen Diskussionen am Kaffeetisch und vielen pers?nlichen Gespr?chen best?tigen den medialen Eindruck: Gef¨¹hlte 70 Prozent der Berichte drehen sich um illegal ergatterte Emails, Videos und um frauenfeindliche ?usserungen, 20 Prozent um Wahlprognosen und Strategien f¨¹r die verbleibenden Tage, w?hrend sich die restlichen 10 Prozent dem Untergang der republikanischen Partei oder des Systems generell widmen.

Wo bleibt die Substanz?

So fragt sich der naive Schweizer Wissenschaftler: Wo bleibt denn die Diskussion der Fakten und L?sungen? Wo bleiben die Visionen, f¨¹r die Hillary Clinton und Donald Trump einstehen? Man sucht sie vergebens. Die Realit?t ist: Clinton, Trump und ihre Parteien k?mpfen nicht f¨¹r ihre Ideen, sondern nur gegeneinander. F¨¹r beide finden mindestens zwei Drittel der Amerikaner die Qualifikation ?ehrlich? nicht zutreffend [1], beide sind unbeliebt [2],und beide bleiben den USA und der Welt eine Vision schuldig, wie sie dieses Land weiterbringen wollen. Die Debatten und Wahlk?mpfe verbreiten Hass und Angst und verurteilen das jetzige System, ohne eine plausible Alternative zu pr?sentieren.

Aussagen werden zwar von unabh?ngiger Seite und von Medien auf Richtigkeit und Konsistenz gepr¨¹ft, aber das Resultat scheint niemanden zu interessieren. Trump zum Beispiel will die Steuern massiv senken und gleichzeitig ¨¹ber 500 Milliarden Dollar zus?tzlich in Infrastrukturen wie Strassen und Br¨¹cken stecken. [3] Wie soll das gehen in einem Land, wo der ?ffentlichen Hand das Geld an allen Enden fehlt, und wo die Sch¨¹ler selbst in einer reichen Stadt wie Boulder Papier und Leim selber in die Schule bringen m¨¹ssen? Studien sagen Trumps Vorschlag ein zus?tzliches Loch im Staatshaushalt von mehreren Tausend Milliarden voraus. [4] Migranten will er mit einer Mauer fernhalten und alle illegal Eingewanderten ausschaffen. ?ber Kosten und Auswirkungen auf die Wirtschaft und ¨¹ber das Schicksal der Betroffenen schweigt er.

Klimawandel? Ein Scherz, den die Chinesen erfunden haben, twitterte Trump vor einigen Jahren. [5] Sein Mitstreiter Mike Pence ist zumindest halbwegs anderer Meinung und sagt, die menschlichen Aktivit?ten h?tten ?some impact?. [6] Ein grosser Schritt f¨¹r einen, der vor 15 Jahren jeden solchen Zusammenhang strikt verneinte. Das Klima-Abkommen von Paris, das inzwischen ratifiziert ist, w¨¹rde Trump sofort k¨¹ndigen. In einem offenen Brief haben 375 Mitglieder der National Academy of Sciences, die in den USA eine sehr hohes Ansehen geniesst, die Aussagen von Trump zum Klimawandel scharf kritisiert. [7] Aber so richtig bewegt das weder die W?hler noch die Presse. Hillary Clinton ist in Sachfragen zwar wesentlich kompetenter. Aber alleine kann sie keinen inhaltsbetonten Wahlkampf machen, wenn sich weder Medien noch ihre Gegner daf¨¹r interessieren. Was letztlich h?ngenbleibt sind auch hier Skandale.

Polarisiert in allen (Glaubens)fragen

In den USA hat sich beim Beispiel Klimawandel eine ?hnlich polarisierte Situation entwickelt wie bei der Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Heirat und Evolution: Man glaubt daran, oder eben nicht. Ein Blick auf die Umfrageresultate ¨¹ber die letzten 20 Jahre zeigt einen immer tieferen parteipolitischen Graben zum Thema Klimawandel [8], der symptomatisch f¨¹r andere Umweltthemen und vermutlich generell f¨¹r die Meinungsbildung im Lande ist: Die Identit?t und Position der Partei wird zur pers?nlichen Identit?t, nur ein linientreuer W?hler ist ein guter W?hler. Selbst der Presse, die eigentlich die Aufgaben h?tte, die Argumente und Positionen von Clinton und Trump kritisch zu beleuchten, glaubt man nicht. Nur 32 Prozent der Amerikaner und nur gerade 14 Prozent der Republikaner vertrauen den (ebenfalls polarisierten) Massenmedien noch. [9]

Wenn das mediale Korrektiv versagt

Ist es der wirtschaftliche und politische Einfluss auf die Medien, der ihre unabh?ngig kritische Position schw?cht, oder schlicht der Umstand, dass im Zeitalter von Social Media niemand mehr bereit ist, einen Zeitungsartikel zu lesen, geschweige denn daf¨¹r zu bezahlen? Wie hat dieses System des wirtschaftlichen und politischen Establishments ¨¹berhaupt diese zwei Kandidaten hervorgebracht? Warum akzeptiert man Korruption, L¨¹gen und diskriminierendes Verhalten bei Politikern? ¡°And when you¡¯re a star, they let you do it,¡± sagte Trump 2005, als wolle er alle Fragen gleich selbst beantworten. ¡°You can do anything.¡± Heute sind zwar fast alle entsetzt, aber er hatte recht: Man hat ihn nicht nur gew?hren lassen, sondern sogar zum Pr?sidentschaftskandidaten gemacht.

Aber wenn es darum geht, den n?chsten Pr?sidenten oder die n?chste Pr?sidentin zu w?hlen, dann sollten wir uns insbesondere dar¨¹ber unterhalten, wer qualifiziert ist, dieses Amt zu ¨¹bernehmen, was ihre Positionen sind, und ob diese faktisch Bestand haben? Sicher, man kann in der Klimadebatte wie bei allen gesellschaftsrelevanten Fragen durchaus verschiedener Meinung sein dar¨¹ber, welche politischen Massnahmen zielf¨¹hrend sind. Aber ohne Kenntnis der zugrundeliegenden Tatsachen kann man keine fundierte Entscheidung treffen.

?hnliche Tendenzen in der Schweiz

Mein Kollege Thomas Stocker hat k¨¹rzlich darauf hingewiesen [10] dass das Positionspapier der SVP von 2009 zum Klimawandel [11] trotz monatlich neuer Temperaturrekorde immer noch behauptet, es g?be seit 1998 keine Erw?rmung mehr. Mit pauschalen Aussagen und angstsch¨¹renden Argumenten glaubt man offenbar, W?hler zu ¨¹berzeugen, ganz ohne komplexe Sachverhalte differenziert zu betrachten.

Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Um sich eine fundierte Meinung zu bilden und zielf¨¹hrende Antworten auf brennende Fragen zu finden, braucht es einen konstruktiven gesellschaftlichen Dialog. Wer die Fakten von pers?nlichen Werten und politischen Meinungen trennt, generiert kurzfristig zwar weniger Klicks als ein Skandalvideo, aber auf lange Sicht einen h?heren Wert f¨¹r die n?chste Generation und unsere Welt (siehe dazu diesen Blogbeitrag). So werde ich mich auch nach meiner R¨¹ckkehr in die Schweiz daf¨¹r einsetzen, f¨¹r die Gesellschaft relevante Fakten verst?ndlich zu formulieren, damit sie weiterhin die Grundlage f¨¹r unsere Entscheidungsprozesse bilden. Bleibt zu hoffen, dass die Politik auch zuh?rt.