Ein Jahr lang nicht fliegen
Wissenschaftler haben sich energisch für die Klimaziele eingesetzt. Nun müssen sie auch handeln. Dafür ist das Fliegen ein idealer Testfall. Es ist im ?ffentlichen Bewusstsein, technische L?sungen sind unwahrscheinlich, und ein Verzicht erfordert Innovationen des Wissenschaftsbetriebs.
Vor einem Jahr habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu fliegen (siehe diesen Blogbeitrag). Aus guten Gründen: Sollen die in Paris formulierten und seither von genügend Staaten ratifizierten Klimaziele erreicht werden, dann muss die Gesellschaft den CO2-Ausstoss in den n?chsten Jahrzehnten auf null reduzieren. Die Wissenschaften k?nnen hier mit gutem Beispiel vorangehen und an sich selbst testen, wie ein Umbau unserer Institutionen hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft funktionieren kann.
Ich liebe das Reisen, und ich ?ndere mein Leben ungern. Es w?re also praktisch, nun berichten zu k?nnen, dass als Forscher aufs Fliegen zu verzichten unm?glich ist. Dem ist aber nicht so. Wenig oder gar nicht fliegen ist durchaus m?glich – und manchmal sogar ein Gewinn. Einen Campari Soda [1] geniessen kann man jedenfalls auch im Zug. Hier meine fünf Argumente fürs Nicht-Fliegen.
Erstens: Pragmatische L?sungen finden
Aufh?ren zu fliegen ergab sich ?hnlich selbstverst?ndlich wie vor einigen Jahren mit dem Fliegen anzufangen. Oft reichen bereits pragmatische Massnahmen zur Flugvermeidung. Gut funktioniert etwa der Informationsaustausch über das Web, insbesondere mit langj?hrigen Partnern. Ich habe online an Konferenzen teilgenommen oder interkontinentale Reisen durch solche in Europa ersetzt. Vortr?ge schaue ich mir ?fters per Videocast an. Publikationen schreibe ich seit vielen Jahren mit Kolleginnen, die ich nie treffe. Auch die Feldarbeit im Ausland l?sst sich partnerschaftlich mit lokalen Forschern organisieren. Doch von Grund auf das Vertrauen für neue Partnerschaften aufzubauen, gestaltet sich ohne pers?nliche Treffen schwierig.
Zweitens: Schummeln erlaubt
Zugegeben, einmal bin ich geflogen. Auf die Azoren. Natürlich ist mein Stolz verletzt. Gerne würde ich heute mit weisser Weste dastehen. Aber eigentlich führt mich dies zur wichtigsten Erkenntnis meines Experiments: Das Vernünftige muss banaler Alltag werden. Das Klima retten wir nicht dank ein paar wenigen Gutmenschen, die gar nicht mehr fliegen.
Es ist effizienter, wenn alle das Fliegen teilweise reduzieren. Wer nur einen Teil der Flüge streicht, hat auch einen ersten Schritt getan. Nichts ?ndern, kann sich ein Wissenschaftler hingegen nicht leisten. Glaubt mir, wir meinen es ernst mit dem Klimawandel.
Drittens: Die andere Party ist meist die bessere
Als Studenten hatten wir nur eine Sorge im Leben. Am Montagmorgen zu realisieren, dass wir am Samstagabend an der falschen Party waren. Die ?konomen nennen dies Opportunit?tskosten: die Kosten der verpassten M?glichkeiten. Wer nur an den Verzicht aufs Fliegen denkt, vergisst die Vorteile des Nicht-Fliegens. Ich habe Zeit gewonnen [2]. Ich habe Neues erlebt. Zum Beispiel konnte ich aus dem Zug die Energiewende in Deutschland beobachten. In Aachen bin ich an einem neuen Windpark vor der schwarzen Kulisse eines Kohlekraftwerks vorbeigefahren, in Bayern an D?rfern gepflastert mit Solarzellen.
Und ich habe zu einer Infrastruktur des Nicht-Fliegens beigetragen. Die Reise im Nachtzug an die Beiratssitzung in Lissabon war romantisch. Leider werden die Nachtzüge in Europa zusehends gestrichen. Hoffentlich bleibt mir diese M?glichkeit noch im n?chsten Jahr.
Viertens: Die Bodenhaftung nicht verlieren
Für meine Flugabstinenz war hilfreich, dass ich mich in meiner Forschung zunehmend auf konkrete, lokale Probleme in unserem Land fokussiere. Dafür arbeite ich mit Kollegen aus anderen Disziplinen und Praxisvertretern hier in der Schweiz zusammen. Für mich ist das Nicht-Fliegen gerade deshalb interessant, weil es mir ein Ansporn ist, meine Rolle als Wissenschaftler bei der L?sung von Umweltproblemen zu reflektieren. Macht es zum Beispiel wirklich Sinn, mit ETH-Studierenden für ein paar Tage oder Wochen nach Afrika oder Südamerika zu jetten, um dort am Fallbeispiel zu lehren? Ergeben sich so echte L?sungen, oder fliehen wir vor unseren eigenen Problemen zu Hause?
Lieber weniger oft fliegen, dafür sich intensiver der Widerborstigkeit von realen Problemen aussetzen. Lieber ?fters die eigenen Probleme anpacken – auch wenn sich keine Lorbeeren holen lassen – als anderen deren Probleme erkl?ren. Lieber zur Ausbildung von mehr Wissenschaftlern aus L?ndern des Südens beitragen statt uns als Experten unentbehrlich fühlen.
Fünftens: Nicht-Fliegen als Innovationsanreiz
Wieso gilt die Erfindung des Fliegens als Meilenstein, w?hrend die Erfindung des Nicht-Fliegens in Innovationsprogrammen fehlt? Ich schlage vor, dass die ETH eine substanzielle Abgabe auf alle ihre Flüge erhebt. Diese Gelder k?nnten in einen Innovationsfonds fliessen, der Forschung für eine CO2-freie Universit?t finanziert.
Mein Neujahrswunsch
Ich werde auch im n?chsten Jahr versuchen, nicht zu fliegen. Für 2017 wünsche ich mir, dass es zu einem Jahr mit vielen Nicht-Fliegern wird. Ganz alleine bin ich mit diesem Anliegen übrigens nicht [3].
Auch die ETH hat soeben eine Mobilit?tsplattform ins Leben gerufen [4]. Sie ist Anlauf- und Koordinationsstelle für nachhaltige Mobilit?t an der Hochschule und will sich insbesondere auch dem Dilemma der dienstlichen Flugreisen widmen.
Dieser Beitrag erschien unter anderem auch im Tagesanzeiger Print und externe Seite online.
Weiterführende Informationen
[1] Immer wieder sch?n, auch für Nicht-Flieger: TAXI – externe Seite Campari Soda
[2] Mein Tipp: eine Flugreise absagen und die Zeit in einer abgelegenen Alphütte verbringen, um einen liegengebliebenen Artikel endlich fertig zu schreiben.
[3] Siehe diese beiden Initiativen zur Senkung des akademischen CO2-Fussabdrucks durch weniger fliegen: externe Seite academic flying blog und externe Seite reduce flying to academic conferences
[4] Die Dezember-Ausgabe des Magazins life widmet sich dem Thema Mobilit?t an der ETH.