Gegen das Vergessen

Die italienische Schriftstellerin Melania G. Mazzucco lehrt derzeit als Cattedra De Sanctis-Gastprofessorin an der ETH Zürich. Der Schwerpunkt ihres literarischen Schaffens k?nnte aktueller nicht sein: Flucht und Migration.

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Schriftstellerin Melania G. Mazzucco: ?Wenn ich ein gutes Buch lese, dann ver?ndere ich mich dadurch immer auch ein Stück weit.? (Bild: Samuel Schlaefli)

Tufo di Minturno, 136 Kilometer süd?stlich von Rom, Ende des 19. Jahrhunderts: In den Sümpfen grassiert die Malaria. Unter den Bauern herrscht bittere Armut und Perspektivlosigkeit. Viele packen das Notwendigste und fliehen in die USA, getrieben von der Hoffnung auf ein Stück Land, ein Auskommen und ein besseres Leben. Die europ?ische Massenauswanderung im 19. Jahrhundert hat Amerika genauso gepr?gt wie Europa. ?Und doch ist sie im kollektiven Bewusstsein Europas fast verschwunden?, sagt Melania G. Mazzucco.

Lebenswelten von Flüchtlingen erforschen

Flucht und Migration sind die Schwerpunktthemen der in Rom lebenden Autorin, die derzeit als Cattedra De Sanctis-Gastprofessorin an der ETH Zürich lehrt (siehe Kasten). ?Ich trage in meinem Herzen die Geschichte einer Migrantin?, sagt sie. In ihrem Roman ?Vita?, der 2003 mit dem Premio Strega, einem der wichtigsten Literaturpreise Italiens, ausgezeichnet wurde, rekonstruierte sie die Migrationsgeschichte ihrer eigenen Familie.

Ihr Grossvater floh 1903, damals 12 Jahre alt, aus Tufo di Minturno, um in New York ein neues Leben zu beginnen. Basierend auf der eigenen Familiengeschichte und historischen Belegen verschr?nkt Mazzucco Dokumentation und Fiktion und erz?hlt von der Lebenswelt der italienischen Einwanderer in den Arbeitervierteln New Yorks – von erfahrener Ablehnung, von Solidarit?t und von den Versuchungen der Kleinkriminalit?t, um sich in der neuen Heimat über Wasser zu halten.

Obwohl der Stoff historisch ist, erkennt Mazzucco viele Parallelen zur heutigen Migration: ?Bei mir um die Ecke in Rom lebt Mohammed, ein junger Marokkaner, der sich in Italien ein besseres Leben erarbeiten will. Seine Hoffnungen und Frustrationen als Fremder in unserer Gesellschaft sind ?hnlich wie damals bei meinem Grossvater in den USA.? Mit einem grossen Unterschied, wie Mazzucco betont: ?Mein Grossvater konnte wieder in seine Heimat zurückkehren. Heute k?nnen viele Flüchtlinge nicht mehr zurück. Wenn sie nicht offiziell in Italien bleiben dürfen, tauchen sie unter und werden unsichtbar.?

Die vergessene Geschichte der europ?ischen Massenauswanderung und wiederkehrende Motive und Erfahrungen sind auch Thema von Mazzuccos Vorlesung, die sie in diesem Herbstsemester an der ETH Zürich h?lt. ?Ich will mit den Studierenden erarbeiten, wie Migrationsgeschichten über die Jahrzehnte hinweg erz?hlt wurden.? Dafür bedient sie sich Poesie, Literatur, Fotografie und Malerei von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. ?In den Erz?hlungen zeigt sich, dass der Wunsch nach einem besseren Leben, vor allem nach mehr Freiheit, oft wie ein Fieber wirkt?, erz?hlt Mazzucco. ?Mein Grossvater litt genauso darunter, wie Flüchtlinge in Lampedusa, mit denen ich gesprochen habe.?

Sie will den Studierenden auch die Augen dafür ?ffnen, weshalb die Migrationsgeschichte Italiens im kollektiven Bewusstsein dermassen unterrepr?sentiert ist. ?Die Massenauswanderung galt in Italien lange Zeit als nationale Schande?, erkl?rt sie. ?Italien war eben erst ein vereinigter Nationalstaat geworden. Da passte es nicht zum Selbstverst?ndnis, dass gleichzeitig hunderttausende Bauern und Arbeiter ins Ausland emigrierten.?

Den Unsichtbaren eine Stimme geben

W?hrend der Vorlesung wird die Schriftstellerin auch den Bogen schliessen zur aktuellen Flucht übers Mittelmeer. Dabei bringt sie viele Erfahrungen aus Recherchen zu ihrem aktuellen Buch ?Io sono con te? (Ich bin bei dir) mit ein. Mazzucco hat für den Roman die aus der Demokratischen Republik Kongo geflüchtete Brigitte Zébé, die dort als Krankenschwester Oppositionelle pflegte und sich weigerte, diese zu vergiften, w?hrend mehrerer Monate in Rom begleitet und ihren ?berlebenskampf ohne Arbeit, Geld und Unterkunft aus n?chster N?he miterlebt.

Zehntausende Flüchtlinge leben aktuell in Rom, meist ignoriert von den Bewohnern der Stadt. Die Literatin will diesen ?Unsichtbaren? mit ihrem Bucheine Stimme geben. ?Wir haben eine Verantwortung, diese Menschen auf ihrer Reise in unsere Gesellschaft zu begleiten und zu unterstützen.?

Mit dieser Forderung trifft sie auf Widerstand: Nach der Ver?ffentlichung von ?Io sono con te? und gemeinsamen Fernsehauftritten mit Brigitte Zébé wurde sie von der Rechten über Internet, soziale Medien und in Anrufen heftig angegriffen.

Neben Angst und Ignoranz hat die Schriftstellerin bei ihrer Recherche aber auch Solidarit?t und Hilfsbereitschaft erlebt; von kirchlichen Organisationen sowie von ?rzten und Psychologen, die sich ehrenamtlich um die k?rperlich und psychisch Verletzten kümmern. Mazzucco hofft, die Lesenden mit ihrem Buch für die prek?re Situation von Flüchtlingen in Europa sensibilisieren zu k?nnen. ?Wenn ich ein gutes Buch lese, dann ver?ndere ich mich dadurch immer auch ein Stück weit?, sagt Mazzuco. ?Darin liegt die Kraft von Literatur.?

Autor, Revoluzzer und Flüchtling

Dass sie ihre Vorlesung ausgerechnet im Rahmen einer nach Francesco De Sanctis benannten Professur halten darf, freut die Schriftstellerin: ?De Sanctis hat die bis heute wichtigste Literaturgeschichte Italiens verfasst. Er war aber nicht nur Autor, sondern auch Politiker, Revoluzzer und am Ende auch ein Flüchtling.? De Sanctis wurde nach der Machtergreifung durch reaktion?re Kr?fte in Italien verfolgt und 1850 verhaftet. Er verbrachte drei Jahre im Gef?ngnis in Neapel, bevor er über Malta in die Schweiz flüchtete. Somit ist auch die De Sanctis-Gastprofessur eine Flüchtlingsgeschichte. Mazzucco wird sicherlich dafür sorgen, dass dies bei ihren Studierenden nicht vergessen geht.

200 Jahr-Jubil?um von Francesco De Sanctis

Die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft tr?gt den Namen ihres Gründers Francesco De Sanctis. Der 1817 in Italien geborene Autor, Politiker und Revolution?r hatte von 1856 bis 1860 die erste Italienisch-Professur der ETH Zürich inne. In Zürich entwickelte De Sanctis einige seiner grundlegenden Gedanken zur italienischen Nationalliteratur, die ihn berühmt gemacht haben. Seit 2007 werden im Rahmen der De Sanctis-Professur jedes Jahr zwei namhafte italienische Kulturschaffende an die ETH Zürich berufen. Dies k?nnen Professorinnen, Schriftsteller oder Journalistinnen sein. Im Herbstsemester h?lt die Schrifstellerin Melania G. Mazzucco (siehe Haupttext) eine Vorlesung zu Erz?hlungen von Flucht und Migration. Im Frühjahressemester 2018 folgt der Literaturprofessor und De Sanctis-Experte Amedeo Quondam, Emeritus der Universit?t Roma La Sapienza, und im Herbstsemester der Literaturwissenschaftler Andrea Cortellessa von der Università degli Studi Roma Tre. Demn?chst erscheint im Rahmen des De Sanctis-Jubil?ums eine Publikation mit Beitr?gen von Gastprofessorinnen und Gastprofessoren. Mehr Informationen: www.italiano.ethz.ch

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