Der Algorithmus, mein Chauffeur
Carsharing mit selbstfahrenden Autos k?nnte St?dte in vielerlei Hinsicht entlasten. Singapur ist Vorreiter und lotet mithilfe von ETH-Forschenden aus, welche Potenziale in einem individualisierten, elektrifizierten und automatisierten ?V liegen.
Die Zukunft der Mobilit?t kündigt sich in Meilensteinen an: Die ?Google-Tochter ?Waymo? verlautbarte diesen Februar, dass ihre Flotte an selbstfahrenden Autos über acht Millionen Kilometer auf ?ffentlichen Strassen zurückgelegt hat. Kurz zuvor hatte der Fahrdienst Uber drei Millionen Kilometer verkündet. Geht es nach der Industrie, werden wir uns die Strassen bald fl?chendeckend mit Fahrzeugen teilen, die nicht mehr von Lenkern, sondern von Algorithmen gesteuert werden. ?bertriebener Techoptimismus oder realistisches Szenario?
Wir fragen einen renommierten Experten auf dem Gebiet, den Italiener Emilio Frazzoli, seit Oktober 2016 Professor für Dynamische Systeme und Regelungstechnik an der ETH Zürich. ?Es kommt drauf an, von welcher autonomen Mobilit?t Sie sprechen?, lautet seine Antwort. ?Bis Sie Ihr selbstfahrendes Auto beim H?ndler kaufen k?nnen, werden mindestens noch 15 Jahre vergehen. Sprechen wir hingegen von Carsharing in beschr?nktem Umfang, ist sie heute schon Realit?t.? Letzteres hat auch mit Frazzolis Forschung zu tun. Seit Mitte Jahr kann auf dem Las Vegas Strip jedermann über die App des Ridesharing Service ?Lyft? 30 BMWs buchen. Gesteuert werden sie durch Algorithmen des US-Autotechnologie-Konzerns ?Aptiv?, welcher den von Frazzoli gegründeten Start-up ?NuTonomy? im Oktober 2017 übernommen hatte.
Stadtmobilit?t neu denken
Vor seinem Wechsel an die ETH war Frazzoli zehn Jahre Professor am renommierten MIT in Boston. Von Beginn an arbeitete er an autonomen Systemen, anf?nglich vor allem für Flugzeuge und Drohnen. ?Das war zwar technisch meist ziemlich cool, doch trug es nicht wirklich zur L?sung von gesellschaftlichen Herausforderungen bei.? 2009 stellte er sich die Sinnfrage: ?Das Hauptargument für die Forschung an selbstfahrenden Autos lautete damals immer: ?weil sie den Verkehr sicherer machen?.?
Diese Annahme stimme zumindest l?ngerfristig, doch den viel gr?sseren, mittelfristigen Nutzen erkannte Frazzoli im Poten?zial, die individuelle Mobilit?t von Stadtbewohnern komplett neu zu denken. ?Das Ziel meiner Forschungsgruppe ist eine Mobilit?t mit den Annehmlichkeiten eines Privatautos, die so nachhaltig ist wie der ?ffentliche Verkehr.? Eine Art ?Uber? also, nur ohne Fahrer und deshalb viel günstiger und breiter verfügbar.
Dank Elektrifizierung und besserer Auslastung zudem bei deutlich geringerem Energieverbrauch und tieferen CO2-Emissionen. Private Autos sind n?mlich durchschnittlich 5 Prozent der Zeit im Gebrauch. Die restlichen 95 Prozent stehen sie rum, in Parkh?usern, Garagen oder auf ?ffentlichem Grund. Das ist weder nachhaltig noch st?dtebaulich oder ressourcen?konomisch sinnvoll.
Frazzolis Start-up ?NuTonomy?, der Steuerungssoftware für auto?nome Fahrzeuge entwickelt, begann 2014 Tests mit selbstfahrenden Fahrzeugen in Singapur zu planen. Gleichzeitig publizierte der Professor einen Artikel, indem er für den 719 km2 grossen Stadtstaat berechnete, was der vollst?ndige Ersatz von privaten mit geteilten, selbstfahrenden Fahrzeugen für das Verkehrsaufkommen bedeuten würde. Das Ergebnis: Mit rund 40 Prozent (350 000 anstatt 800 000 Fahrzeuge) k?nnten die Mobilit?tsbedürfnisse der gesamten Bev?lkerung des Stadtstaates befriedigt werden.
Ein Jahr sp?ter kündigte Premierminister Lee Hsien Loong die Vision einer ?Car Lite Future? an, basierend auf selbstfahrenden Fahrzeugen, dem Ausbau des ?V und des Langsamverkehrs. Mit einer Dichte von 7697 Menschen pro km2 (in der Schweiz: 203) ist der 5,5-Millionen-Stadtstaat wie keine andere Metropole auf einen effizienten Verkehr angewiesen. Die Nachfrage nach privaten Autos wird deshalb seit Jahren durch hohe Z?lle und Kosten für Fahrbewilligungen von bis zu 70 000 Dollar stark reguliert. Auf einer zwei Hektaren grossen Teststrecke der Nanyang Technological University im Westen der Insel testen heute mehr als zehn Unternehmen ihre Systeme. Ab 2022 sollen drei Randgebiete der Stadt ausserhalb der Stosszeiten mit ersten selbstfahrenden Bussen bedient werden.
Transformation simulieren
Pieter Fouries ?Labor? liegt im Südwesten von Singapur. Dort, in einem hellen Büro im 6. Stock des grün bewachsenen CREATE-Towers der Universit?t Singapur (NUS), forscht er für das ?Future Cities Laboratory? der ETH Zürich an den St?dten der Zukunft. Fourie leitet das Projekt ?Engaging Mobility?, in dessen Rahmen im Juli 2017 ein erster Workshop mit Regierungsbeh?rden und Hochschulen stattfand. Ziel war es, die Rahmenbedingungen für eine stadtweite ?Mobility on Demand? mit selbstfahrenden Autos und Bussen zu definieren. Davon ausgehend wurden die wichtigsten Forschungsfragen formuliert. Zum Beispiel: Was geschieht mit der heute vorhandenen Parkfl?che, wenn ein Grossteil der Fahrzeuge konstant unterwegs ist? Müssen Strassenführungen neu geplant werden? Und welche Auswirkungen wird ein automatisierter und elektrifizierter Verkehr auf den bestehenden ?V, die Energienachfrage und die Sicherheit haben?
Solchen Fragen geht Fourie mit der Simulationsplattform MATSim nach, die in der Gruppe von Professor Kay Axhausen am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich entwickelt wurde. MATSim ist Agenten-basiert. Das heisst, die Simulation wird durch das Verhalten der einzelnen Agenten angetrieben und nicht durch übergeordnete Regeln.
?Basierend auf den aktuellsten demografischen Daten zur Bev?lkerung Singapurs modellieren wir eine synthetische Population, die der echten so nahe kommt wie m?glich?, erkl?rt Fourie. In dieser Population hat jeder einzelne Agent ein bestimmtes Mobilit?tsverhalten und Transportziel, basierend auf reellen Verkehrsdaten. Fourie spielt nun mit den Rahmenbedingungen, darunter der Anzahl von eingeführten Fahrzeugen, deren Gr?sse, den maximal zul?ssigen Wartezeiten für Passagiere, der Verfügbarkeit von Parkpl?tzen und unterschiedlichen Verkehrsführungen. Dann l?sst er die synthetische Population w?hrend 24 Stunden ihren Dingen nachgehen. Dabei bewertet das System automatisch für jeden einzelnen Agenten, wie effizient dieser bei verschiedenen Szenarien seine Ziele erreichen konnte.
Derzeit programmiert Fouries Team solche Simulationen für die Tanjong Pagar Waterfront, ein Gel?nde von rund zwei Quadratkilometer Fl?che im Westen Singapurs. Dieses wird aktuell von einem Containerterminal zu einem Wohn- und Gesch?ftsviertel umgestaltet. Mit 60?000 Akteuren hat Fourie bereits mehr als 200?000 Trips simuliert. ?Unter anderem hat er für drei unterschiedliche Strassentypologien berechnet, wie gross die Flotte an autonomen Fahrzeugen sein müsste und wie viele Strassenkilometer zurückgelegt würden, um jeweils denselben Grad an Service zu gew?hrleisten.
Weiter haben die Forschenden für eine Flotte, bestehend aus Fahrzeugen mit 4, 10 und 20 Sitzpl?tzen, vier verschiedene Parkstrategien simuliert. Das vorl?ufige Ergebnis: Das Verkehrssystem ist am effizientesten, wenn die geteilten Fahrzeuge auf der Strasse parkieren dürfen, sobald keine Anfragen für weitere Fahrten mehr eintreffen. Auch wenn dadurch die Strassenkapazit?t zeitweise um eine Fahrbahn reduziert wird. Zudem f?rdern weniger, dafür gr?ssere Pick-up- und Drop-off-Stationen den Verkehrsfluss, da die Autos zum Sammeln der Passagiere weniger Umwege fahren. Auch sollten die Stationen genügend gross sein, damit sie verschiedene Fahrzeuggr?ssen bedienen k?nnen. Bereits n?chstes Jahr will Fourie solche Simulationen für die ?gesamte Insel laufen lassen.
Entscheidungsdilemmas
Trotz hohem Tempo in Singapur und ersten Services in Las Vegas sieht Emilio Frazzoli nach wie vor grosse Herausforderungen – besonders für die Bew?ltigung von chaotischen Umgebungen. ?Wir wissen bis heute noch nicht genau, wie sich selbstfahrende Autos im Verkehr verhalten sollen.? Das liege an Dutzenden von Entscheidungsdilemmas, welche der Alltagsverkehr mit sich bringt. Zum Beispiel: Darf ein selbstfahrendes Auto eine doppelte Linie überqueren, wenn es dadurch einen potenziellen Unfall verhindern kann? Was, wenn ein Verkehrsteilnehmer ohne Verschulden verletzt wird, damit ein verschuldeter Fahrer nicht t?dlich verunglückt?
Solche Entscheide müssen in der Programmierung von Steuerungsalgorithmen angelegt sein. Frazzoli forscht deshalb unter anderem an sogenannten ?Rulebooks?, die dazu dienen, unterschiedliche Entscheidungskriterien in den Steuer?algorithmen zu priorisieren. Zuoberst in der Hierarchie stehen Regeln, ?welche die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden garantieren, zuunterst die Regeln für mehr Fahr?komfort.
In einem aktuellen Artikel sch?tzten Frazzoli und sein Team, dass 200 Regeln in zw?lf Hierarchiegruppen n?tig sind, damit Fahrzeuge auf alle m?glichen Situationen vorbereitet sind – inklusive Regeln mit niedriger Priorit?t, wie zum Beispiel, dass strassennahe Tiere nicht erschreckt werden. Für Frazzoli w?re die Zeit reif für eine breite ?ffentliche Debatte zum autonomen Verkehr: ?Wir sollten die in den Codes implementierten Regeln zu Sicherheit und Haftung nicht einfach den Ingenieuren von privaten Unternehmen überlassen.? Schliesslich sei es im Interesse von uns allen, dass sich unsere neuen, ?virtuellen Lenker m?glichst gut in den Stadtverkehr einfügen. So wie herk?mmliche Neulenker; nur eben berechenbarer, sicherer und effizienter.?