Wie Arten entstehen
Die Geschwindigkeit der Evolution l?sst sich einerseits von Fossilien, andererseits von Verwandtschaftsb?umen ableiten – oft jedoch mit abweichenden Ergebnissen. Mithilfe eines neuen Modells haben ETH-Forschende den Widerspruch nun aufgel?st.
Die Geschwindigkeit, mit der in der Evolution neue Tier- und Pflanzenarten entstanden oder bereits existierende wieder ausgestorben sind, ist von grossem Interesse – nicht nur für Wissenschaftler. Denn Artbildungs- und Aussterberaten verraten viel über die Vergangenheit unseres Planeten. Tauchen in kurzen Abst?nden neue Arten auf, deutet das darauf hin, dass die Lebensbedingungen auf der Erde günstig gewesen sein müssen. Hingegen k?nnen aussergew?hnliche Ereignisse ein Massenaussterben ausl?sen. Das berühmteste Beispiel ist das Verschwinden der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren, wahrscheinlich verursacht durch einen Meteoriteneinschlag oder Vulkanausbrüche.
R?tselhafte Abweichung
Die Frequenz, mit der Arten in der Vergangenheit auftauchten und wieder verschwanden, ist jedoch schwierig zu bestimmen. ?Es war ja niemand dabei, als diese Prozesse abliefen?, sagt Rachel Warnock, Postdoktorandin in der Forschungsgruppe Computational Evolution an der ETH Zürich. Deshalb versuchen Wissenschaftler, die Entstehungs- und Aussterberaten mit indirekten Methoden abzuleiten. Wichtige Informationen liefern zum einen Fossilienfunde aus verschiedenen geologischen Zeitaltern. Zum anderen k?nnen auch auf DNA-Analysen basierende, sogenannte phylogenetische Verwandtschaftsb?ume heute lebender Arten Hinweise geben. Aus diesen Stammb?umen l?sst sich mit statistischen Methoden ebenfalls ableiten, wie oft in der Vergangenheit neue Arten entstanden und alte ausstarben.
Für die Wissenschaftler ist jedoch problematisch, dass die beiden genannten Methoden oft abweichende Ergebnisse liefern. Die aus Fossilienfunden abgeleiteten Entstehungs- und Aussterberaten sind oft viel h?her als jene von phylogenetischen Methoden. Bisher war unklar, wie es zu dieser Abweichung kommt.
Verschiedene Ans?tze vereint
Eine Erkl?rung haben nun Rachel Warnock und Tanja Stadler, Leiterin der Forschungsgruppe Computational Evolution, zusammen mit weiteren Wissenschaftlern gefunden. ?Die beiden Methoden basieren auf unterschiedlichen Annahmen, wie Artbildung abl?uft?, sagt Warnock. Deshalb gelangen sie zu verschiedenen Ergebnissen. Wird jedoch von denselben Annahmen ausgegangen, lassen sich die Ergebnisse der beiden Methoden in Deckung bringen.
Das konnten die Forschenden am Beispiel verschiedener Tiergruppen zeigen, etwa der Wale, der Hunde- und der Rinderartigen. Gelungen ist ihnen dies mit Hilfe eines eigens entwickelten Computermodells. ?Mit diesem ist es nun m?glich, beide Sichtweisen zu vereinen?, sagt Warnock. Die Resultate der Arbeit wurden in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications ver?ffentlicht.
Erkenntnisse zur Artbildung
Man geht davon aus, dass es nicht nur eine, sondern verschiedene M?glichkeiten gibt, wie neue Arten entstehen (siehe Infobox). Dabei führt jeder Modus zu unterschiedlichen Ergebnissen: Es k?nnen entweder eine oder zwei neue Arten gleichzeitig entstehen, w?hrend der Vorfahre, die alte Art, entweder weiter existiert oder ausstirbt. ?Diese verschiedenen M?glichkeiten hat man in den statistischen Methoden zur Analyse von Stammb?umen und Fossilien bisher nicht explizit berücksichtigt?, sagt Warnock. Das neue Modell bezieht sie nun mit ein und erreicht so, dass fossilienbasierte und phylogenetische Informationen vergleichbare Artbildungs- und Aussterberaten liefern.
Es gibt zudem Hinweise darauf, welcher Modus der Artentstehung bei einer Tier- oder Pflanzengruppe vorwiegend am Werk gewesen sein muss. Beispielsweise l?sst sich aus dem Stammbaum der Walartigen ableiten, dass der h?ufigste Modus die Umwandlung war, dass also alte Arten in neue übergegangen sind (Modus 3, siehe Infobox). Somit kann das Modell künftig dazu dienen, neue Erkenntnisse über die Evolution von Organismen zu gewinnen. Zudem erlaubt es, die Ergebnisse fossilienbasierter und phylogenetischer Analysen besser als bisher in Einklang zu bringen.
Drei Artbildungsmodi
1. Knospung (budding speciation): Aus einer bestehenden Art (?Ur?-Wal) geht eine neue hervor, die alte existiert ebenfalls weiter (1 neu, 0 ausgestorben).
2. Aufspaltung (bifurcating speciation): Aus einer alten Art zweigen zwei neue ab, die alte hingegen verschwindet (2 neu, 1 ausgestorben).
3. Artumwandlung (anagenetic speciation): Eine alte Art entwickelt sich weiter zu einer neuen, dadurch verschwindet die alte (1 neu, 1 ausgestorben).
Ausgehend von einer Art k?nnen auf drei Weisen neue entstehen. In ihrer Studie untersuchten die ETH-Forschenden, ob aus bestimmten Arten überwiegend auf eine Weise neue Arten hervorgehen.
Literaturhinweis
Silvestro D, Warnock RCM, Gavryushkina A, Stadler T. Closing the gap between palaeontological and neontological speciation and extinction rate estimates. Nature Communications, volume 9, Article number: 5237 (2018). doi: externe Seite 10.1038/s41467-018-07622-y