Die Tücken der Schnittstellen

Bis man mit Gehirn-Computer-Schnittstellen Gedanken lesen kann, ist es noch ein weiter Weg. Und auch sonst hat die Technik ihre Grenzen, stellt Roger Gassert klar.

Roger Gassert

Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI, für englisch: brain-computer interfaces) bieten Menschen mit schwerer k?rperlicher oder sprachlicher Behinderung die M?glichkeit, per Gedanken über einen Computer mit der Umwelt zu interagieren und kommunizieren. Jüngst hat Elon Musks Firma Neuralink Pl?ne vorgestellt, wonach sie mit neuartigen fadenf?rmigen Elektroden, die in die Grosshirnrinde eingesetzt werden, Menschen mit der digitalen Welt verbinden m?chte1.

EEG-BCI am Cybathlon 2016
Ein ?Pilot? steuert am Cybathlon 2016 mittels EEG-BCI seinen Avatar in einem Rennspiel an. (Bild: ETH Zürich / Nicola Pitaro)

Und bereits in den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung eindrückliche Erfolge erzielt: In mehreren Studien wurden Tetraplegikern fingergrosse Schnittstellen mit hundert kleinen Elektroden in die Grosshirnrinde implantiert. Dank diesen konnten die Tetraplegiker einen Roboterarm ansteuern, indem sie gedanklich versuchten, ihren gel?hmten Arm zu bewegen2. In einer anderen wegweisenden Studie konnten Patienten mit dem vollst?ndigen Locked-in-Syndrom Ja/Nein-Antworten ?ussern. Dabei wurden mittels funktioneller Nahinfrarotspektroskopie nicht-invasiv lokale ?nderungen des Blutsauerstoffgehalts gemessen und mit einem Machine-Learning-Algorithmus ausgewertet3. Menschen mit dem vollst?ndigen Locked-in-Syndrom ist es nicht m?glich, willentlich Muskeln zu bewegen. Sie haben somit keine andere M?glichkeit, sich auszudrücken.

Erst wenige Alltagsanwendungen

Solche spektakul?ren Ankündigungen und Beispiele aus der Forschung t?uschen jedoch darüber hinweg, dass die BCI-Technologie generell noch immer in den Kinderschuhen steckt. Im Alltag trifft man BCI h?chst selten bis gar nie an, auch nicht bei Menschen mit schwerster k?rperlicher Behinderung4. Die einzige Alltagsanwendung, die mir bekannt ist, sind EEG-Messungen, mit denen Patienten mit schwerer k?rperlicher Behinderung ein Buchstabierger?t bedienen k?nnen, entweder als Erg?nzung zu einem über Augenbewegungen gesteuerten Buchstabierger?t, da ein solches die Nutzer bei l?ngerem Gebrauch ermüdet, oder eben nach kompletter L?hmung beim vollst?ndigen Locked-in-Syndrom, wenn sie auch die Kontrolle über ihre Augenmuskeln verlieren.

?Die Signalqualit?t von EEG-BCI reicht nicht  für sicherheitskritische Anwendungen.?Roger Gassert

Die Gründe für den limitierten Transfer von BCI in Alltagsanwendungen sind vielf?ltig: Invasive BCI mit implantierten Elektroden bedürfen einen neurochirurgischen Eingriff, bergen Infektionsgefahr, und die Signalqualit?t nimmt bei den zurzeit verwendeten Nadelelektroden über die Monate ab. Ein solcher Eingriff ist im Normalfall nur bei schwerster chronischer Behinderung gerechtfertigt und war bisher nur im Rahmen von wissenschaftlichen Studien m?glich.

Und obwohl nicht-invasive EEG-BCI viel sicherer und verbreiteter sind, haben auch diese zahlreiche Schw?chen: Ihre Signalqualit?t ist im Vergleich zu implantierten Schnittstellen viel schlechter, weil die Distanz zum Gehirn gr?sser ist. Bewegungen von Stirn-, Augen- und Nackenmuskeln k?nnen das Signal ausserdem st?ren. Selbst bei gut trainierten Benutzern werden einfache Befehle nur in 60 bis 90 Prozent der F?lle korrekt ausgelesen. Dies reicht nicht für sicherheitskritische Anwendungen, wie etwa das Ansteuern eines Elektrorollstuhls. Das Ansteuern der EEG-BCI ist für die Nutzer zudem mit einem relativ hohen kognitiven Aufwand verbunden, und rund einem Fünftel der Probanden gelingt es gar nicht, ein EEG-BCI zuverl?ssig anzusteuern. Man spricht dabei von BCI-Analphabetismus.

Mit Gedanken steuern, nicht Gedankenlesen

Eines muss man sich ausserdem bewusst sein: Weder derzeit noch in mittelfristiger Zukunft kann bei BCI von ?Gedankenlesen? die Rede sein. BCI erkennen neuronale Aktivit?tsmuster, welche durch bestimmte Gedanken oder kognitive Aufgaben generiert werden. ?Durch Gedanken ansteuern? ist nicht dasselbe wie ?Gedankenlesen?.

Dennoch müssen wir bereits heute an die ethischen und moralischen Fragen denken, die sich in Zukunft m?glicherweise ernsthaft stellen werden, gerade was Privatsph?re und Menschlichkeit anbelangt5. Viele unserer Gedanken behalten wir für uns selbst, sprechen sie nicht aus und setzen sie nicht in Handlungen um. Wer trüge die Verantwortung, wenn ein BCI einen b?swilligen Gedanken ausführt, der nicht zum Ausführen gedacht war? Gedanken k?nnten zudem von Aussen manipuliert werden, sobald sie digital weiterverarbeitet werden (Brainhacking). Und wenn BCI in Zukunft mal unsere Gedanken in Echtzeit auslesen und mit künstlicher Intelligenz verbinden k?nnen, k?nnten die Benutzer von BCI übermenschliche F?higkeiten erlangen, was zu einem Ungleichgewicht in der Gesellschaft führen k?nnte.

Besser dokumentieren

Es liegt sowohl an den Forschenden als auch den Medien, nicht nur die M?glichkeiten, sondern auch die Grenzen und ethischen Auswirkungen von BCI klar aufzuzeigen. Bei wissenschaftlichen BCI-Studien sollten die verwendeten Methoden besser dokumentiert, Datens?tze ver?ffentlicht und die Limitierungen besser kommuniziert werden. Heute ?hneln BCI noch zu oft einer Blackbox, und Studienresultate sind zum Teil auch für Experten nur schwer nachzuvollziehen.

Dies zeigte sich auch im Nachgang an das BCI-Rennen, das wir am Cybathlon 2016 in Zürich durchführten. Es war nicht m?glich nachzuvollziehen, was genau bei den führenden Teams zum Erfolg geführt hat6. Ein anderes Beispiel ist die eingangs erw?hnte wegweisende Studie, die Patienten mit dem vollst?ndigen Locked-in-Syndrom zu kommunizieren verhalf. Sie konnte von anderen Wissenschaftlern nicht reproduziert werden, weshalb sie ?ffentlich angezweifelt wurde. W?re die Studie besser dokumentiert worden, h?tte sich das Problem m?glicherweise nicht gestellt.

Potenzial in Forschung und Therapie

Trotz dieser Herausforderungen sind BCI wichtige Forschungsinstrumente. Sie erlauben, mehr über die Funktion und Organisation des Gehirns zu verstehen, etwa auch bei der Gehirn-Reorganisation nach einem Schlaganfall. Zudem konnte über die letzten Jahre in mehreren Studien aufgezeigt werden, dass BCI-gesteuerte Therapiesysteme bei Schlaganfallpatienten mit starker L?hmung die Erholung unterstützen k?nnen. In einem Therapieszenario sind Fehlentscheide und verz?gerte Befehle im Gegensatz zu einem BCI-gesteuerten Rollstuhl kein Sicherheitsrisiko. Zudem sind BCI hier die einzige M?glichkeit, motorische Befehle im Gehirn zu erkennen und diese an einen Roboter oder einen elektrischen Muskelstimulator zu senden, um die gel?hmten Glieder zu bewegen und potentiell die biologische Verbindung zum Gehirn zu st?rken.

Fussnoten

1 externe Seitehttps://www.theverge.com/2019/7/16/20697123/elon-musk-neuralink-brain-reading-thread-robot

2 Hochberg LR et al.: Reach and grasp by people with tetraplegia using a neurally controlled robotic arm. Nature 2012, 485: 372, doi: externe Seite10.1038/nature11076

3 Chaudhary U et al.: Brain-computer interface-based communication in the completely locked-in state. PLOS Biology 2017, e1002593, doi: externe Seite10.1371/journal.pbio.1002593

4 Cochlea-Implantate und die Tiefe Hirnstimulation sind hier ausgenommen. Dabei handelt es sich zwar auch um Schnittstellen, allerdings wird dabei das zentrale Nervensystem nicht ausgelesen, sondern stimuliert.

5 Drew L: externe SeiteThe ethics of brain-computer interfaces. Nature 2019

6 externe Seitehttps://kids.frontiersin.org/article/10.3389/frym.2019.00087

Cybathlon 2020

Nachdem sich 2016 auf Initiative der ETH Zürich zum ersten Mal Menschen mit Behinderung beim Absolvieren alltagsrelevanter Aufgaben mittels modernster technischer Assistenzsysteme an einem Cybathlon gemessen haben, wird am 2. und 3. Mai 2020 wiederum ein Cybathlon stattfinden. Der Ticketvorverkauf für die Veranstaltung in der Swiss-Arena in Kloten hat begonnen.

Bereits am 27. August 2019 ist der Cybathlon zusammen mit Weltklasse Zürich im Hauptbahnhof Zürich zu Gast. Die Wettkampfbl?cke finden von 12 bis 14 Uhr und von 17 bis 19 Uhr statt. Der Eintritt an diese Veranstaltung ist kostenlos.

Weiter Informationen auf cybathlon.ethz.ch

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