Raus aus dem Fliegenraum

Die reduktionistische Tradition hingegen betrachtet isolierte Teile eines Ganzen und versucht, Ursachen in Wirkungsketten durch Experimente zu ermitteln. Dieser experimentelle Ansatz war enorm erfolgreich. Er entstand wohl um 1910 in Thomas Hunt Morgans ber¨¹hmten ?Fliegenraum? (Englisch: The Fly Room). So wurde das Labor genannt, in dem der sp?tere Nobelpreistr?ger mittels Versuchen an Fruchtfliegen die Existenz von Genen auf Chromosomen nachwies und damit die moderne Genetik begr¨¹ndete.

Morgan ¨¹bertrug seinen experimentellen Ansatz auf die Embryologie und empfahl ihn auch f¨¹r weitere biologische Fachgebiete. So durchdrang der Reduktionismus die Biowissenschaften und trug massgebend zu unserem heutigen Verst?ndnis von Lebensprozessen bei.

Wir leben in einer komplexen Welt

Diese Sicht auf die Natur ist dennoch begrenzt. Mitunter die wichtigsten wissenschaftlichen Fortschritte entstanden, indem man einzelne Fachgebiete miteinander verband. Zum Beispiel ging aus der Paarung von Embryologie und Genetik in den 1960er Jahren das fruchtbare Feld der Evolution?ren Entwicklungsbiologie hervor.² ?Evo-Devo? erlaubte v?llig neue Einsichten, die sich auch auf Disziplinen wie Pal?ontologie, Systematik und Biochemie st¨¹tzen.

Dennoch ist der reduktionistische Ansatz in der Wissenschaft nach wie vor gut etabliert. Das zeigt sich in der best?ndigen Organisationsstruktur akademischer Abteilungen und Institute. Auch unsere Ausbildung ist immer noch durch disziplin?res Denken gepr?gt ¨C und oft verbunden mit einem verengten Blick auf die Welt, in der wir leben.

Covid-19 wirft nun ein grelles Licht auf unseren stark vernetzten Lebensraum. Das Virus ist wahrscheinlich eine Folge des illegalen Handels mit Wildtieren. Dieser r¨¹hrt wiederum von ungleichen Einkommen sowie Chancen her, ferner von alten Br?uchen und ineffizienter Justiz. Urbane Lebensformen und eine globale Wirtschaft verbreiten das Virus ¨¹ber Verkehrsnetze, die alle L?nder miteinander verbinden.

Verordnete Lockdowns haben Implikationen, die weit ¨¹ber die Epidemiologie hinausgehen. Sie wirken sich direkt auf Lieferketten, Arbeitspl?tze und nicht zuletzt auf die Gesundheit aus. Die Rezession wird die Armut weiter versch?rfen, was wiederum soziale Konflikte anheizen kann. Covid-19 zeigt uns eindr¨¹cklich auf, wie sich St?rungen im System kaskadenartig ausbreiten. Die Konsequenzen sind kaum absehbar.

Zu stark auf Fachgebiete fokussiert

Es gibt diese ?t¨¹ckischen Probleme?, bei denen es aufgrund vielf?ltiger Wechselwirkungen nur schon schwierig ist, sich auf ihr Wesen zu einigen. Covid-19 und unsere kollektiven Antworten darauf sind ein solch t¨¹ckisches Problem. Klimawandel, Artensterben und Umweltzerst?rung z?hlen ebenfalls dazu.

Sie erfordern Herangehensweisen, die disziplin?re Grenzen ¨¹berwinden. Denn: Betrachtet man nur losgel?ste Komponenten eines Systems, verhalten sich die Einzelteile anders als im Kontext des Ganzen. Ein reduktionistischer Ansatz, der Teilaspekte f¨¹r Experimente isoliert, kann daher nur ein selektives Verst?ndnis liefern.

Die Lehre, die ich daraus ziehe, lautet: Wenn wir solche Herausforderungen angemessen adressieren wollen, m¨¹ssen wir den Fokus ?ffnen und einen umfassenden Systemansatz verfolgen. Systemdenken wird nicht unmittelbar Antworten liefern. Richten sich Gesellschaft und Politik entsprechend aus, werden sie agiler und anpassungsf?hig.

Trotz oft bekundetem Interesse: Beh?rden, Bildungsst?tten und Zivilgesellschaft haben diese souver?ne Sichtweise noch nicht verinnerlicht. Auch die akademische Welt, eigentlich zur Vorreiterin pr?destiniert, ist weitgehend in ihren fachlichen Wurzeln verankert. Transdisziplin?re Zentren werden zwar rhetorisch gefeiert, bleiben aber im Vergleich zu den Fachbereichen meist marginal, wie Ressourcenzuteilung und Reputation belegen. Covid-19 schl?gt vor, dass wir dies ?ndern sollten.

Ein inspirierender Blick zur¨¹ck

Joseph Woodger, fr¨¹her Verfechter des integrierten Denkens, begann seine Karriere wie Thomas Hunt Morgan als experimenteller Embryologe, interessierte sich aber bald f¨¹r die konzeptuellen Grundlagen der Biologie. Diese sah er als eine fragmentierte Wissenschaft ohne einheitliche Prinzipien.³ Woodger pl?dierte f¨¹r einen integrierten Systemansatz, bei dem die Eigenschaften der Teile eines Organismus von ihren Beziehungen innerhalb des Ganzen abh?ngen. Die Geschichte anerkennt Woodger heute als einen der f¨¹hrenden theoretischen Biologen des 20. Jahrhunderts.

Es ist Zeit, aus dem rigiden Reduktionismus von Morgans Fliegenraum auszubrechen und Woodgers Weitsicht ¨¹ber die Biologie hinaus auf die Funktionsweise unserer sozio-?kologischen Systeme anzuwenden.