Die wundersame Reise kleiner RNA-Stücke
Schon seit l?ngerem ist bekannt, dass die RNA-Interferenz Gene in entfernten Zellen stummschaltet. Nun weisen ETH-Forschende erstmals eindeutig nach, dass kurze doppelstr?ngige RNA-Schnipsel die Kuriere sind, welche die RNA-Interferenz über weite Entfernung übermitteln.
Kleine RNA-Stücke spielen in den meisten Lebewesen eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Genen, indem sie diese stummschalten. Sie tun dies, indem sie hochspezifisch an gewisse Sequenzen von Gen-Transkripten, also ebenfalls RNA-Moleküle, andocken. Damit verhindern sie, dass die Zellmaschinerie anhand dieser RNA-Moleküle Proteine herstellt. RNA-Interferenz (RNAi) wird dieser Mechanismus genannt, und er ist in der Biologie überaus wichtig.
Das Ph?nomen der RNAi zeigt sich jedoch nicht nur in einer Zelle. Sie kann sich auch weit entfernt von der Ausgangszelle in anderen Geweben und Organen manifestieren. Forschende haben dies vor allem in Pflanzen, aber auch in niederen Tieren wie dem Fadenwurm C. elegans nachweisen k?nnen.
Proteine und DNA sind ausgeschlossen
Unbeantwortet blieb bislang aber die Frage, welchem Botenstoff es m?glich ist, quer durch Zellen und Gewebe hindurch zu reisen. ?Proteine konnten wir schon vor 20 Jahren ausschliessen, als entdeckt wurde, dass in Pflanzen RNAi übermittelbar ist?, sagt Olivier Voinnet, Professor für RNA-Biologie an der ETH Zürich. RNAi erfordere, dass ein Bote sequenzspezifisch an das stummzuschaltende Gen-Transkript andocken kann. Proteine h?tten diese F?higkeit nicht. Auch dass DNA aus dem Zellkern herauskomme, sei unwahrscheinlich. ?Der wahrscheinlichste Kandidat war schon immer ein RNA-Molekül?, erkl?rt Voinnet. Bis heute blieb allerdings unklar, welche Art und Formen von RNA – ob lang oder kurz, einzel- oder doppelstr?ngig, an Proteine gebunden oder ungebunden – in Pflanzen RNAi hervorruft.
Doppelstrang-Schnipsel reisen weit
Nun aber lüften der ETH-Professor und sein Team den Schleier. Die ETH-Forschenden k?nnen erstmals eindeutig nachweisen, dass kurze doppelstr?ngige RNA-Stücke diese Boten sind. Sie bestehen aus Paaren von nur 21 bis 24 RNA-Grundbausteinen und werden ?small interfering RNAs? (siRNA) genannt. Die neue Studie ist soeben in der Fachzeitschrift ?Nature Plants? erschienen.
Verschiedenartige siRNA entstehen in der Regel sehr zahlreich aus dem Erbgut von Viren, die eine Zelle infiziert haben. Aber auch zelleigene Gene oder Gensequenzen dienen als Bauanleitung für diese Botenmoleküle. Dadurch k?nnen Zellen über den Weg der RNAi nicht nur eindringende Viren, sondern auch eigene Gene stummschalten. Und gerade weil die RNAi mobil ist, haben Pflanzen die erstaunliche F?higkeit, Gene und deren Umsetzung in Proteine zellübergreifend auf Distanz regulieren zu k?nnen. Dies k?nnte für Pflanzen als an einen Ort gebundene Lebewesen besonders wichtig sein, um ihr Wachstum kontinuierlich anzupassen, was ?ph?notypische Plastizit?t? genannt wird.
Wandern oder nicht wandern
In ihrer neuen Studie schlossen die Forschenden zudem aus, dass sich andere Arten von Nukleins?uren oder Komplexe von RNA und Proteinen durch Pflanzenzellen bewegen. ?Wir k?nnen definitiv beweisen, dass doppelstr?ngige siRNA notwendig und hinreichend sind, um RNAi in entfernten Zellen und Geweben von Pflanzen zu bewirken?, sagt Voinnet.
Die ETH-Forschenden bestimmten jedoch nicht nur die schwer fassbaren siRNA-Kuriere. In ihrer Studie zeigen sie auch auf, wie die siRNA sich bewegen und wie sie ihre Funktion ausüben kann: Solange ein siRNA-Molekül als freier Doppelstrang vorliegt, ist es mobil, weil es in dieser Form nicht an ein passendes, komplement?res RNA-Transkript binden kann. Um dies zu tun, muss die siRNA zun?chst in ein spezifisches Argonaut-Effektorprotein (AGO) ?geladen? werden. Erst die korrekte Kombination aus richtigem AGO-Protein und passender siRNA kann das Zieltranskript stummschalten, wobei die entsprechende siRNA vernichtet wird.
Die für die Studie verwendete Modellpflanze besitzt zehn verschiedene AGO-Proteine, von denen einige jeweils nur ausgew?hlte siRNA-Fragmente anhand spezifischer Signaturen erkennen.
AGO-Proteine Bewegungsmuster der siRNA
Das hat eine weitere Konsequenz. Verschiedene AGO-Proteine kommen in unterschiedlichen Zellen und Geweben vor. Die ETH-Forschenden fanden heraus, dass sich passende AGO-Proteine schon in der Ursprungszelle mit einem Teil der siRNA beladen und diese verbrauchen. Der nicht geladene Teil der siRNA-Moleküle kann die Zelle verlassen.
Abh?ngig von der An- oder Abwesenheit bestimmter AGO-Proteine innerhalb der Zellen, die von den mobilen siRNAs durchquert werden, werden die Moleküle somit verbraucht oder nicht. Wenn zum Beispiel eine Fülle von AGO-Proteinen vorhanden ist, fangen sie viele siRNAs mit verschiedenen Signaturen ein - und stoppen deren Reise. Enth?lt aber eine Zelle kaum AGOs, dann werden die meisten siRNAs die Zelle verlassen und gr?ssere Entfernungen im Organismus zurücklegen.
Enth?lt eine Zelle schliesslich grosse Mengen von nur einem spezifischen AGO, werden nur die siRNAs mit der passenden Signatur verbraucht, w?hrend die übrigen weiterwandern. Mit anderen Worten: siRNA-Moleküle werden auf ihrem Weg durch das Pflanzengewebe selektiv gefiltert und verbraucht.
Grenzenlose Vielseitigkeit der mobilen RNAi
?Die Menge und Vielfalt der AGO-Proteine in durchquerten Zellen stellen eine Art Molekularsieb für siRNA dar. Die Form dieses Siebs kann sich von Zelltyp zu Zelltyp entlang des Weges der siRNA-Moleküle unterscheiden, und je nachdem wie die Siebe konfiguriert sind, k?nnen verschiedenste siRNA-Bewegungsmuster erzeugt werden?, erkl?rt Voinnet. Noch interessanter sei, dass Stress oder Entwicklungssignale die Bildung von einigen AGOs anstossen, so dass sich die r?umliche Konfiguration des Siebes jederzeit ?ndern und weiterentwickeln k?nne.
Die unz?hligen Bewegungsmuster verleihen dem System der mobilen RNAi innerhalb der Pflanze eine fast grenzenlose Flexibilit?t und Vielseitigkeit bei der Gestaltung der Genexpression, also dem Ablesen von Genen und dem ?bersetzen des Transkriptes in Proteine.
Die Forschenden hoffen nun, diese neuen Erkenntnissen auch für praktische Anwendungen nutzen zu k?nnen. So sind sie daran, auf AGOs basierende, künstliche Molekülsiebe für Pflanzenzellen zu entwickeln. Damit liesse sich pr?zise einstellen, wann und wo sich welche siRNA-Moleküle bewegen k?nnen. Denkbar ist, dass diese Methode eines Tages in der Agrarwirtschaft verwendet werden kann.
Literaturhinweis
Devers EA, Brosnan CA, Sarazin A et al. Movement and differential consumption of short interfering RNA duplexes underlie mobile RNA interference. Nature Plants volume 6, pages789–799(2020). doi: externe Seite 10.1038/s41477-020-0687-2