Wie der Klimawandel Ökosysteme durcheinanderbringt
Wird es w?rmer, steigen Organismen aus dem Tiefland h?her hinauf. Forschende der ETH und der WSL untersuchten, was mit Pflanzengemeinschaften auf Grasland in den Alpen geschehen k?nnte, wenn pflanzenfressende Heuschrecken aus tieferen Lagen sich dort ansiedeln.
Auf der Welt wird es w?rmer und w?rmer – und viele Organismen, die heute in tieferen Lagen oder geografischen Breiten heimisch sind, müssen in h?here Lagen und Breiten ausweichen.
Besiedeln Organismen neue Lebensr?ume, k?nnten sie jedoch das ?kologische Gleichgewicht, das sich über eine lange Zeitspanne ausgebildet hat, empfindlich st?ren. Denn Pflanzen und ihre Fressfeinde haben sich über lange Zeit zusammen entwickelt. Dies wirkte sich auf ihre Verbreitung und Merkmale, die sie an gemeinsam besiedelten Standorten zeigen, aus.
Dies trifft insbesondere für alpine Gebiete zu: Weil in hohen Lagen die Vegetationszeit kurz ist, sind pflanzenfressende Insekten weniger h?ufig, und Pflanzen müssen sich weniger vor Fressfeinden schützen. In tiefen Lagen jedoch herrscht ein hoher Frassdruck. Pflanzenfressende Insekten sind h?ufiger und artenreicher. Pflanzen müssen sich daher st?rker verteidigen, sei es mittels Stacheln, Dornen, Haaren oder durch giftige Inhaltsstoffe. Der Klimawandel k?nnte diese ?kologische Struktur st?ren.
Heuschrecken in h?here Lagen gezügelt
In einem Versuch untersuchten deshalb Forschende der ETH, der Eidgen?ssischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sowie der Universit?t Neuch?tel, was geschehen k?nnte, wenn Pflanzenfresser – im diesem Fall verschiedene Heuschrecken aus mittleren Lagen – in gr?sseren H?hen alpine Wiesen besiedeln und dort auf neue Pflanzengesellschaften stossen. Die Studie wurde soeben in der Fachzeitschrift ?Science? publiziert.
Die Forschenden verfrachteten verschiedene Heuschreckenarten von mittlerer H?he (1400 Meter über Meer) auf drei alpine Grasland-Standorte auf H?hen von 1800, 2070 und 2270 m.ü.M. Dort setzten die ?kologen die Heuschrecken in K?figen aus. Die angestammten Grashüpfer wurden zuvor aus den Probefl?chen entfernt. Der Versuch wurde in der Region Anzeindaz in den Waadtl?nder Alpen durchgeführt.
In ihrer Studie massen die Forschenden unter anderem, wie sich unter dem Einfluss der pflanzenfressenden Insekten die Biomasse, Struktur und Zusammensetzung der alpinen Pflanzengesellschaften ver?nderten. Die Forschenden untersuchten zudem, ob einige Alpenpflanzen aufgrund gewisser Merkmale wie Z?higkeit der Bl?tter, dem Gehalt an Kiesels?uren oder Inhaltsstoffen wie Phenolen oder Tanninen, anf?lliger für Frass sind.
Gebietsfremde Heuschrecken ver?ndern Flora
Dabei stellten die ?kologen fest: Mit ihrem Fressverhalten beeinflussten die Heuschrecken die Vegetationsstruktur und Zusammensetzung der alpinen Flora deutlich.
Alpine Pflanzengesellschaften sind klar strukturiert: Pflanzen mit z?hen Bl?ttern dominieren und bilden die oberste Vegetationsschicht; darunter wachsen schattentolerantere Arten mit weicheren Bl?ttern. Diese natürliche Gliederung wurde durch die eingeführten Heuschrecken gest?rt: Die Insekten frassen bevorzugt h?her wachsende, z?he Pflanzen. Diese glichen aufgrund ihrer Blattstruktur, dem N?hrstoffgehalt, chemischen Abwehrstoffen oder ihrer Wuchsform den Tieflandpflanzen, welche die Heuschrecken normalerweise frassen.
Dadurch verringerten die Insekten die Biomasse der dominanten z?hen Alpenpflanzen, und das wiederum begünstigte das Aufkommen von kleinwüchsigen Arten, die von den Pflanzenfressern gemieden wurden. Die Pflanzenvielfalt nahm so insgesamt kurzfristig zu.
Einwandernde Pflanzenfresser haben leichtes Spiel
?Einwandernde Pflanzenfresser verzehren in ihrem neuen Lebensraum nur bestimmte Pflanzen, was die Konkurrenzverh?ltnisse zwischen den verschiedenen Alpenpflanzen ver?ndert und neu organisiert?, sagt der Erstautor der Studie, Patrice Descombes. So k?nnte die Klimaerw?rmung das ?kologische Gleichgewicht st?ren, weil mobile Tiere wie pflanzenfressende Insekten, ihr Vorkommen rascher in gr?ssere H?hen ausdehnen k?nnen als die sesshaften Pflanzen.
Herbivore Insekten aus tieferen Lagen k?nnten daher in alpinen Lebensr?umen mit ans?ssigen Pflanzen leichtes Spiel haben, da diese nur ungenügend oder gar nicht auf neue Fressfeinde eingestellt sind. Das k?nnte die heutige Struktur und Funktionsweise alpiner Pflanzengemeinschaften als Ganzes ver?ndern. Der Klimawandel wirkt sich also nicht nur direkt aufgrund der Temperaturerh?hung auf ?kosystem aus, sondern auch indirekt aufgrund ver?nderten Beziehungen zwischen Pflanzenfressern und Pflanzen.
Indirekte Effekte bisher vernachl?ssigt
Für Lo?c Pellisier, Professor für Landschafts?kologie an der ETH Zürich und der WSL, ist dieser indirekte Effekt des Klimawandels auf ?kosysteme etwas vom Wichtigsten, das aus der Studie hervorgeht: ?Die Klimafolgenforschung hat bisher vor allem direkte Effekte der Temperatur auf ?kosysteme untersucht. Die neuen Wechselwirkungen zwischen Organismen, die in neue Lebensr?ume einwandern, k?nnten wichtige strukturelle Ver?nderungen hervorrufen. Sie sind wichtige Treiber von ver?nderten ?kosystemen in einem immer w?rmeren Klima.?
Mit ihren Resultaten wollen die Forschenden auch Modelle verbessern, die solche Vorg?nge nur ungenügend einbezogen haben. Davon erhoffen sich die ?kologen auch bessere Prognosen, wie sich ?kosystemfunktionen und -dienstleistungen unter dem Einfluss des Klimawandels ver?ndern.
Literaturhinweis
Descombes P, et al.: Novel trophic interactions under climate change promote alpine plant coexistence. Science, published online Dec 17th 2020. DOI: externe Seite 10.1126/science.abd7015