Verfassungsrechtlich unproblematisch und sogar geboten

Geimpften Personen über einen Impfpass Vorteile zu gew?hren, ist umstritten. Der Jurist Alexander Stremitzer argumentiert, warum das verfassungsrechtlich unproblematisch ist, und warum Erleichterungen sogar geboten sind.

Alexander Stremitzer

In der politischen und gesellschaftlichen Debatte wird zurzeit leidenschaftlich und vehement darüber gestritten, ob Geimpfte sich freier bewegen dürfen sollen als Ungeimpfte.

Die Gegner eines Impfpasses, auch ?Grüner Pass? genannt, der Geimpften Erleichterungen wie zum Beispiel eine erh?hte Reisefreiheit gew?hrt, messen zwei Argumenten besonderes Gewicht bei: Erstens dürfe man aus rechtlichen und ethischen Gründen Geimpfte nicht bevorzugen – Ungleichbehandlungen dieser Art seien gleichheitswidrig und unethisch, sie trieben einen Keil in die Gesellschaft. Zweitens sei wissenschaftlich nicht hinreichend klar, ob Geimpfte weniger infekti?s seien, schon aus diesem Grund verbiete sich nach dem Vorsichtsprinzip eine Bevorzugung.

Corona-Impfass
Die EU plant, einen Corona-Impfpass einzuführen, der geimpften Personen das Reisen erm?glicht. Auch in der Schweiz gibt es entsprechende Absichten (Symbolbild). (Bild: Shutterstock)

Ungleichbehandlung ist begründet

Diese Argumente verfangen rechtlich nicht, und sie überzeugen auch ethisch nicht. Rechtlich verfangen sie nicht, weil es sich nicht um ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen handelt – für die Unterscheidung zwischen Geimpften und Ungeimpften gibt es einen guten sachlichen Grund: die Impfung. Dabei ist unerheblich, ob alle Impfwilligen die gleiche Chance haben oder hatten, geimpft zu werden. Das Leben enth?lt viel fundamentalere Ungleichheiten bereit, an die wir ohne Weiteres und bisweilen durchaus fragwürdig verfassungsrechtlich gerechtfertigte Unterscheidungen anzuknüpfen bereit sind – etwa die Staatsangeh?rigkeit eines wohlhabenden Landes, eine robuste gesundheitliche Konstitution oder jugendliches Alter.

Grunds?tzlich ist der Staat in unseren Verfassungstraditionen verpflichtet, Grund- und Verfassungsrechte zu gew?hrleisten und zu schützen. Eingriffe und Beschr?nkungen sind m?glich, aber sie sind begründungsbedürftig. Die Freiheitseingriffe, die wir nunmehr seit über einem Jahr hinnehmen müssen, rechtfertigen sich aus der Gefahr des Virus, seiner rasanten Verbreitung und dem damit einhergehenden Risiko der ?berlastung des Gesundheitssystems.

Geimpfte sind weder gef?hrdet noch Gef?hrder

Daten aus Israel und aus den USA legen aber nahe, dass die Impfungen in der weit überwiegenden Zahl der F?lle die Erkrankung der Geimpften verhindern und ebenso mit grosser Wahrscheinlichkeit die Weitergabe des Virus – eine Analyse, der sich letzte Woche auch das deutsche Robert-Koch-Institut angeschlossen hat. Damit – und das ist ja gerade der Sinn der Impfung – fallen Geimpfte aus dem Pool der Gef?hrdeten und der Gef?hrdenden heraus. Sie gew?hren als Teil einer wachsenden Geimpften-Herde potenziell auch jenen Schutz, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen k?nnen oder aus ideologischen Gründen nicht impfen lassen wollen – eine Entscheidung, die freiheitsrechtlich grunds?tzlich ebenfalls Schutz geniesst. Damit aber entf?llt jeder Grund für eine weitere Grundrechtseinschr?nkung für Geimpfte.

?Zu verlangen, man br?uchte absolute Sicherheit, dass kein Geimpfter je das Virus weitergibt, ist ?hnlich absurd wie zu verbieten, ein Auto zu besteigen, solange nicht ausgeschlossen ist, dass wir bei der Fahrt einen Herzinfarkt erleiden.?Alexander Stremitzer

Dieser Nachweis ist praktisch nicht zu erbringen und stellt eine gef?hrliche Umkehrung dar: Aus gutem Grund muss zur Ausübung der Grundrechte nicht der Bürger oder die Bürgerin die eigene Ungef?hrlichkeit nachweisen. Der Rechtfertigungsdruck liegt vielmehr auf der Seite des Staates, der diese Rechte einschr?nken will. Für eine solche Einschr?nkung bei Geimpften fehlen nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand schlicht die plausiblen Argumente.

?brig bleibt das Neid-Argument

Ist erst einmal der Herdenschutz eingetreten, sind wir also alle unabh?ngig von unserem Impfstatus geschützt, und ist unser Gesundheitssystem wieder sicher, dann entfallen die Grundrechtseinschr?nkungen auch für alle – und der Impfpass verliert seine Bedeutung. Dass die ?Befreiung durch Impfung? bei dem knappen Gut Impfstoff nicht allen gleichzeitig zuteilwird, sondern eben nacheinander, ist eine Banalit?t, die wir an anderen Stellen im Leben überhaupt nicht mehr bemerken: Soll beim Aufbau eines Breitband-Internetnetzes das Internet etwa ernsthaft erst dann eingeschaltet werden dürfen, wenn das Netz auch im gesamten l?ndlichen Raum fertiggestellt ist? Solange die Impf-Priorisierung sachlichen Erw?gungen folgt und nicht willkürlich ist, ist es irrelevant, dass manche früher wieder ihre grundrechtlichen Freiheiten wiedergewinnen.

Was übrig bleibt, ist ein sublimiertes Neid-Argument. Zu dessen Enttarnung h?lt die Rechtsethik ein Gedankenexperiment des ?konomie-Nobelpreistr?gers John Harsanyi und des Rechtsphilosophen John Rawls bereit, den sogenannten Schleier des Nichtwissens: Wie würden wir entscheiden, wenn wir nicht wüssten, in welche gesellschaftliche Rolle wir geboren würden – Impfbefürworter oder Impfgegner, Geimpfte oder Ungeimpfte. Es steht wohl fest, dass wir ohne subjektive F?rbung einig w?ren: Wer immer in den Genuss einer Impfung gekommen ist, soll nicht l?nger den Grundrechtsbeschr?nkungen ausgeliefert sein.

Freuen wir uns mit allen Geimpften, dass wenigstens sie wieder zunehmend ihre Freiheiten geniessen dürfen und dem Virus ein Stück Hoheit über ihr Leben entreissen k?nnen. Der grüne Impfpass mit seinen Erleichterungen für Geimpfte kann uns insofern – wie etwa die Bilder aus Israel – fr?hlich machen, Hoffnung geben und Aufatmen lassen. Wir sollten in solche Zust?nde auch hier hineinwachsen.

Alexander Stremitzer ist Jurist und ?konom und Professor an der ETH Zürich. Er hat diesen Beitrag zusammen mit den beiden Staatsrechtlern Kevin Cope, Professor an der University of Virginia, und Emanuel Towfigh, Professor an der EBS Universit?t in Wiesbaden, verfasst. Stremitzer und Cope haben zum selben Thema auch einen Beitrag in der jüngsten Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift ?Journal of Nuclear Medicine? ver?ffentlicht1.

Referenzen

1 Cope K, Stremitzer A: Governments are constitutionally permitted to provide ‘vaccine passports’ – we think some may also be constitutionally obligated to do so. Journal of Nuclear Medicine 2021, doi: externe Seitejnumed.121.262434

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