«Jump in and go for it»

Draussen ist es d¨¹ster. Graue Wolken bedecken den Himmel. Heftiger Wind fegt ¨¹ber den Asphalt. Er beutelt Baumkronen und Geb¨¹sch und wirbelt einzelne dicke Regentropfen herum. Nadia Shardt, schwarz gekleidet, mit braunem Pferdeschwanz und hellblauer Hygienemaske, wartet vor dem Eingang des CHN-Geb?udes. Dort ist das Institut f¨¹r Atmosph?re und Klima untergebracht, an dem die 27-j?hrige Kanadierin in der Gruppe Atmosph?renphysik von Ulrike Lohmann forscht.

Cloud from a Chip

Bis zu Shardts Labor im Erdgeschoss sind es nur ein paar Schritte. Hier drinnen ist es ruhig: Die Jalousien sind geschlossen, das Wetter ist ausgesperrt. Trotzdem geht es hier um Wolken und Niederschl?ge: Shardt untersucht, wie in Wolken Wassertr?pfchen zu Eis werden.

Daf¨¹r hat die Postdoktorandin zusammen mit Florin Isenrich, Doktorand am Institut f¨¹r Chemie- und Bioingenieurwissenschaften, eine neue Apparatur entwickelt. Ihr Name: ?Cloud from a Chip?. Shadt f¨¹hrt den Chip begeistert vor. ?usserlich gleicht er einem dicken Objekttr?ger, also einem Glaspl?ttchen f¨¹r die Mikroskopie, das auf einem Handteller locker Platz hat. In seinem Inneren lassen sich mit einem winzigen, kurvenreichen Gangsystem Wassertr?pfchen mit einem Durchmesser von rund 75 Mikrometer herstellen. Das entspricht ungef?hr der Dicke eines menschlichen Haares ¨C und ungef?hr dem Durchmesser von Wassertr?pfchen in Wolken.  

Supercooles Wasser

Die winzigen Tr?pfchen sind in ?l eingebettet und ordentlich hintereinander aufgereiht. Shardt leitet die gesamte Wasser-in-?l-Emulsion in feine Plastikschl?uche. Parallel angeordnet ergeben diese Schl?uche eine Art k¨¹nstliche Miniwolke, die die Forscherin mithilfe einer ebenfalls eigens entwickelten K¨¹hleinheit schrittweise herunterk¨¹hlen kann. ?Tr?pfchen aus reinem Wasser in dieser Gr?sse werden erst bei rund minus 35 Grad Celsius zu Eis?, erkl?rt sie. Davor sind sie zwar buchst?blich eiskalt, kristallisieren aber nicht. ?Supercooling? heisst das in der Fachsprache.

Im schwarz hinterlegten Feld unter dem Mikroskop kann Shardt rund 300 Tr?pfchen gleichzeitig beim Einfrieren beobachten. Eine Kamera macht laufend Bilder. ?Bilden sich Eiskristalle, erscheinen sie als weisse Punkte?, erkl?rt die Chemieingenieurin. Die Auswertung ist momentan erst halb automatisch, die Bildqualit?t noch verbesserungsf?hig, doch der experimentelle Ansatz funktioniert: ?Die Resultate decken sich mit denen aus ?lteren Ver?ffentlichungen?, sagt Shardt.

Lust auf Experimente

?Es war eine tolle Erfahrung, eine ganze Apparatur von Grund auf zu entwickeln?, sagt die Wissenschaftlerin. ?Ich h?tte nicht gedacht, dass ich so viel, von dem, was ich w?hrend des Chemieingenieur-Studiums gelernt habe, tats?chlich einmal brauchen w¨¹rde.?

Spezialisiert hat sich Shardt w?hrend des Doktoratsstudiums auf Thermodynamik. Phasen¨¹berg?nge interessieren sie besonders. In ihrer Doktorarbeit besch?ftigte sie sich mit theoretischen Fragestellungen und Daten aus der Literatur. Um ihren Horizont zu erweitern, wollte sie danach den experimentellen Teil der Forschung kennenlernen und ?selber Experimente entwickeln und Daten generieren?.

Klimarelevanter Vorgang

Genau das tut sie nun mit der neuen Apparatur. ?Mich interessiert, wie genau verschiedene Staubpartikel in der Atmosph?re die Bildung von Eis in Wolken beeinflussen.? St?ube fungieren als sogenannte Kristallisationskerne, die die Bildung von Eiskristallen ausl?sen. Die Wissenschaftlerin plant deshalb Versuche, bei denen sie den Wassertr?pfchen mineralische St?ube, wie Silikate, beimischt. Zun?chst einzeln und dann in klar definierten Mischungen. Ihre Resultate sollen helfen, Klimamodelle zu verbessern und damit pr?zisere Prognosen zu erm?glichen. ?Es geht zwar nur um ein kleines Detail?, sagt die Postdoktorandin. ?Aber es kann wichtig sein.?

In der Atmosph?re findet der ?bergang von Wasser zu Eis, das sich an Kristallisationskernen ausbildet, in tiefen bis mittleren H?hen bei Temperaturen unter Null Grad Celsius statt. Der Vorgang ist f¨¹r Wetter und Klima relevant. Denn: ?Eisbildung ver?ndert die Eigenschaften von Wolken. Zum Beispiel, wie viel Sonnenlicht sie durchlassen oder wie viel W?rmestrahlung von der Erdoberfl?che sie zur¨¹ckhalten?, erkl?rt Shardt. ?Oder deren Neigung zu Niederschl?gen.?

(Fast) ¨¹ber den Wolken

F¨¹r das weitere Gespr?ch geht es ins oberste Stockwerk des Geb?udes. Vom Sitzungszimmer mit einer der sch?nsten Aussichten in ganz Z¨¹rich sieht man ¨¹ber ETH- und Uni-Hauptgeb?ude hinweg, ¨¹ber den See und bis zu den Alpen. Der Himmel, der hier weit und hoch erscheint, ist unterdessen zur H?lfte blau, die Wolken sind weiss, flauschig und friedlich.

?Manchmal schaue ich hier hinaus, um auf neue Ideen zu kommen?, sagt Shardt. Auch in ihrer Freizeit widmet sie sich gerne Landschaften und Elementen: Eine Zeitrafferaufnahme, die sie k¨¹rzlich aufgenommen hat, zeigt den ?etliberg ¨C und eine Menge vorbeiziehender Wolken. ?Ich mag es, Dinge zu erforschen, die jeder aus dem Alltag kennt?, sagt sie.

Gelegenheiten ergreifen

Dass sie sich f¨¹r die Forschung interessiert, wurde der Chemieingenieurin w?hrend des Bachelor-Studiums klar. Durch ihre sp?tere Doktormutter Janet Elliott bekam sie fr¨¹h die M?glichkeit, an einem Forschungsprojekt mitzuarbeiten. Auch dort ging es um Eis ¨C allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Shardt untersuchte in einem interdisziplin?ren Team, wie sich Eisbildung in tiefgefrorenen Transplantations-Geweben verhindern l?sst. Ihre Resultate konnte sie publizieren und an Konferenzen vorstellen. Die Gelegenheit j¨¹ngere Studierende zu unterrichten, erhielt sie im zweiten Jahr ihres Doktoratsstudiums, was in Kanada sonst un¨¹blich ist. Sie war stets offen f¨¹r solche Herausforderungen. Ihr Motto: ?Just jump in and go for it ¨C and see how it goes.?

Neugierig auf die Atmosph?renphysik wurde sie durch eine Vorlesung im Doktoratsstudium an der University of Alberta, Kanada. ?Ich dachte, es w?re ein interessantes Thema f¨¹r mein Postdoktorat?, blickt Shardt zur¨¹ck. Und eine gute Gelegenheit, ihr Thermodynamik-Fachwissen anzuwenden. Sie entdeckte, dass die ETH Z¨¹rich auf diesem Gebiet f¨¹hrend ist und kontaktierte Ulrike Lohmann. ?See what is possible.? Und es klappte. Finanziert wird das Postdoktorat durch Eigenmittel der Gruppe, ein kanadisches NSERC-Stipendium und ein ETH-Fellowship.

Professur als Ziel

Nadia Shardts Ziel ist eine Professur. Eine, die es ihr erlaubt, ?Thermodynamik auf relevante Systeme anzuwenden?. Gerne w¨¹rde sie sich weiterhin mit atmosph?rischen Systemen besch?ftigen. Denn: ?Je besser wir verstehen, was in der Atmosph?re passiert, desto besser k?nnen wir das Klima vorhersagen ¨C und damit auch fundiertere Entscheidungen treffen und bessere L?sungen finden?, sagt sie. Und dazu w¨¹rde sie gerne beitragen.

Wie bestellt, um die Relevanz der Forschung rund um Atmosph?re und Klima zu unterstreichen, hat das Wetter am Ende des Gespr?chs erneut umgeschlagen: Von der grandiosen Aussicht ist fast nichts mehr zu sehen. Wind und Regen peitschen gegen die Glasfronten des Sitzungszimmers. Es sieht aus, als blicke man in eine gigantische Waschmaschine. Doch so schnell wie der Regen gekommen ist, ist er vorbei. Beim Ausgang des Geb?udes angekommen, ist der Himmel wieder blau.