«Die EU wird kein Verteidigungsbündnis à la Nato»

Im Interview mit ETH-News analysiert ETH-Professor Frank Schimmelfennig wie sich der Krieg in der Ukraine auf die Europ?ische Union auswirkt und welche Chancen das ukrainische Beitrittsgesuch hat.

Frank Schimmelfennig
Frank Schimmelfennig ist Professor für europ?ische Politik an der ETH Zürich. (Bild:ETH Zürich / Giulia Marthaler)

Am Sonntag wurde Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit als franz?sischer Pr?sident gew?hlt. Welche Bedeutung hat das in der aktuellen Situation für die Europ?ische Union?

Frank Schimmelfennig: Bei einem Sieg von Marine Le Pen w?re die EU wohl in eine tiefe Krise geschlittert, da Le Pen signalisiert hat, dass sie die europ?ische Integration Frankreichs zurückdrehen würde. Die gemeinsame Haltung des Westens im Ukraine-Krieg w?re geschw?cht worden. Das Wahlergebnis erlaubt der EU und der Nato ihre Politik gegenüber Russland fortzusetzen.

Die EU hat weitreichende Sanktionen gegen Russland erlassen, ihre Grenzen für ukrainische Flüchtlinge ge?ffnet und sowohl den Kauf als auch die Lieferung von Waffen an die Ukraine finanziert. Wie stabil ist diese Haltung?

Sie erscheint sehr stabil. Der wichtigste Faktor für ein geeintes Auftreten der EU ist, dass in den Mitgliedsstaaten keine rechtspopulistischen Regierungen mit Sympathien für Putin an der Macht sind. Daher war der Wahlsieg von Pr?sident Macron so wichtig.

Gibt es Faktoren, die ein geeintes Vorgehen erschweren?

Die Mitglieder der EU sind unterschiedlich stark von russischem ?l und vor allem Gas abh?ngig. In der Diskussion um eine Ausweitung der Sanktionen führt das zu Konflikten. Aber es ist eine Frage des Tempos, nicht der grunds?tzlichen Ausrichtung.

Krisen galten immer schon als der Motor der europ?ischen Einigung. Wie wird dieser Krieg die EU ver?ndern?

Die Vorstellung, dass Krisen dazu führen, dass sich die EU langsam aber sicher zu einem Bundesstaat entwickelt, halte ich für v?llig falsch. Vielmehr reagiert die EU in kleinen Schritten und sehr problemspezifisch auf Krisen. Man sieht allerdings, dass die EU in der Lage ist, ihr Krisenmanagement zu verbessern. In der Eurokrise brauchte eine effektive Krisenpolitik mehrere Jahre, in der Flüchtlingskrise dauerte es Monate, bei Corona war es eine Frage von Wochen und in der Ukrainekrise eine Frage von Tagen.

?Auf Grund des moralischen Drucks wird es der EU schwerfallen, der Ukraine ein Beitrittsversprechen zu verweigern.?
Frank Schimmelfennig

Das müssen Sie anhand der Ukraine erkl?ren.

Die EU-Kommission hat von Anfang an die Sanktionspolitik der EU koordiniert, da sich dies bereits nach der russischen Annexion der Krim bew?hrt hatte. Darüber hinaus hat die EU in vergangenen Krisen eine ganze Reihe von Sonderhaushalten und Instrumenten geschaffen, die ihr nun mehr Handlungsspielraum verschaffen.

Zum Beispiel?

Die Waffenlieferungen an die Ukraine wurden über die sogenannte Europ?ische Friedensfazilit?t finanziert. Dieser Topf, der 2021 dafür geschaffen wurde, die F?higkeit der EU zur Konfliktverhütung und Friedenserhaltung zu st?rken, ist kurzerhand umgeschichtet worden. Dafür mussten die Mitgliedsstaaten keine neuen Mittel sprechen. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen kam ausserdem erstmals eine 2001 erlassene Richtline zum Einsatz, die eine schnelle und unbürokratische Aufnahme ausserhalb des regul?ren Asylverfahrens erm?glicht.

Das klingt eher nach klein-klein. Die Hoffnung mancher Beobachter, der Ukraine-Krieg würde nun endlich zu einer engeren Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen, sind demnach unbegründet?

Die EU wird sich auf die Aufgaben konzentrieren, für die sie starke Kompetenzen und Ressourcen hat, also in der Wirtschafts- und Energiepolitik. Denkbar ist auch eine engere Zusammenarbeit bei der Rüstungsbeschaffung. Aber sie ist nicht auf dem Weg zu einer Europ?ischen Armee oder einem handlungsf?higen Verteidigungsbündnis à la Nato.

Wie steht es um das Verh?ltnis EU-Nato?

Die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen EU und Nato hat sich deutlich intensiviert. W?hrend die milit?rische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg vor allem in der Nato stattfindet, konzentriert sich die EU auf die Koordination der Sanktionen unter den Mitgliedstaaten und mit den USA.

Und trotzdem wird der franz?sische Pr?sident Macron nicht müde zu betonen, dass die EU in sicherheitspolitischen Fragen autonomer werden müsse. Sind das alles Luftschl?sser?

Der Krieg zeigt deutlich, wie sehr Europa weiterhin auf die USA angewiesen ist, um sich zu verteidigen. Gerade die osteurop?ischen EU-Mitglieder, die sich unmittelbar von Russland bedroht fühlen, verlassen sich für ihre Sicherheit nicht auf die EU, sondern auf die Nato und damit auf die USA. Solange das transatlantische Verh?ltnis stabil ist, wird sich daran nichts ?ndern. Daher ist die EU gut beraten, auf eine funktionierende Zusammenarbeit mit der Nato zu setzen.

Ursula von der Leyen spricht mit Volodymyr Selenskyj
EU-Kommissionspr?sidentin Ursula von der Leyen spricht auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Pr?sidenten Volodymyr Selenskyj. (Bild: Keystone)

Die Ukraine will EU-Mitglied werden. Für wie realistisch halten Sie das?

Die EU hat sich bisher geziert, ein explizites Beitrittsversprechen zu geben, doch der moralische Druck mehr zu tun steigt. In der EU ist ein tats?chlicher Beitritt der Ukraine aber sehr umstritten.

Warum?

Die Ukraine hatte vor dem Krieg mit Korruption und oligarchischen Strukturen zu k?mpfen. Auch bei der Rechtsstaatlichkeit hatte sie Defizite. Nach den Erfahrungen der Osterweiterung ist die EU hier besonders hellh?rig. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, wie das Land nach dem Krieg aussieht. Der Wiederaufbau wird enorme Ressourcen binden. Es ist auch wahrscheinlich, dass Territorialkonflikte mit Russland weiterhin schwelen und immer wieder ausbrechen. Die EU hat aber bisher nur Staaten aufgenommen, die sich entweder in einem befriedeten Umfeld oder – wie bei Zypern – in einem stabil eingefrorenen Konflikt befinden.

Dann handelt es sich bei der positiven Reaktion von Kommissionspr?sidentin Ursula von der Leyen auf das ukrainische Beitrittsgesuch um Symbolpolitik?

Diese Reaktion ist tats?chlich vor dem Hintergrund der moralisch stark aufgeladenen Situation zu sehen. Die EU h?tte gar nicht die Mittel, um für die Sicherheit der Ukraine zu sorgen. Im ?stlichen Europa sind L?nder immer zuerst der Nato und dann der EU beigetreten. Das entsprach der Logik: zuerst ein stabiles sicherheitspolitisches Umfeld, dann der langwierige und anspruchsvolle Weg in die EU. Der EU-Beitritt sollte daher keinesfalls als Alternative oder Trostpreis für die Nato-Mitgliedschaft gesehen werden.

L?uft die EU gegenüber der Ukraine Gefahr, Erwartungen zu wecken, die sie sp?ter nicht erfüllen kann?

Dieses Risiko gibt es tats?chlich. Die EU muss aufpassen, nicht in eine ?rhetorische Falle? zu geraten. Auf Grund des moralischen Drucks wird es ihr schwerfallen, der Ukraine ein Beitrittsversprechen zu verweigern. Im besten Fall führt dies zu einem sehr langen Beitrittsprozess. Im schlechtesten Fall muss die EU die Erwartungen der Ukraine irgendwann entt?uschen, was auf beiden Seiten zu Verwerfungen führen kann. Die stagnierende Erweiterung im westlichen Balkan und der faktisch tote Beitrittsprozess der Türkei sind hier warnende Beispiele.

Kommen wir am Ende noch kurz auf die Beziehungen der Schweiz zur EU zu sprechen: Welche Auswirkungen hat der Krieg darauf?

Auf Grund der neuen Bedrohungslage ist es denkbar, dass die Schweiz sich in sicherheitspolitischen Fragen der EU und der Nato ann?hert. Die bestehenden Konflikte zwischen der Schweiz und der EU – von der Forschungskooperation bis zu den institutionellen Fragen – sind aber davon ausgenommen. Die EU hat wohl aktuell noch weniger Zeit und Geduld, auf die Forderungen der Schweiz einzugehen. Und auch in der Schweiz gibt es wenig Anzeichen, der EU entgegenzukommen.

Frank Schimmelfennig ist Professor für Europ?ische Politik an der ETH Zürich

Solidarit?t mit der Ukraine

Die ETH Zürich verurteilt die Kriegshandlungen in der Ukraine und unterstützt betroffene Studierende und Forschende. Hier finden Sie die aktuellen Unterstützungsangebote der ETH Zürich.

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