Ausgebildet für eine komplexe Welt
Im ETH-Weiterbildungskurs ?Applied Technology in Energy? erwerben Führungskr?fte Wissen über aktuelle Energietechnologien. Damit k?nnen sie fundierte Entscheide in der Industrie treffen.
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Für einmal ist Tim Kopka nicht Student, sondern Experte. An einem Freitagmorgen im Juli sitzt der Student des Masterstudiengangs ?Energy Science and Technology? in einem Zimmer des ETH-Hauptgeb?udes umrahmt von Gesch?ftsleuten, Managerinnen und Anw?lten, die ihn mit Fragen l?chern. Sie sind dem Ingenieurwissen auf der Spur, das Kopka in einer Gruppenarbeit über die Auswirkungen des Klimawandels auf das Stromnetz erworben hat.
Im Rahmen des Weiterbildungsprogramms ?CAS Applied Technology in Energy? erhalten die Berufst?tigen einen Crashkurs in Ingenieurwissenschaften. Wollen wir das Netto-Null-Ziel bis 2050 erreichen, steht uns eine drastische Wende zu erneuerbaren Energien bevor, die wiederum neue Herausforderungen wie eine schwankende Stromproduktion nach sich zieht. ?Die Industrie muss heute Investitionsentscheide treffen, die grosse Auswirkungen auf die Zukunft haben?, sagt Christian Schaffner, Leiter des Energy Science Centers (ESC) der ETH.
Gemeinsam mit Ulrike Grossner hat er das Programm des CAS-Studiengangs, der Teil des ?MAS Applied Technology? ist, entwickelt. Der CAS-Kurs gibt Führungskr?ften von Industrieunternehmen vertieftes Wissen über Energietechnologien mit, das sie bef?higt, ihre Firma in eine sichere Energiezukunft zu führen. ?Wir wollen den Teilnehmenden die Denkweise der Ingenieur:innen n?herbringen, sodass sie technische Berichte verstehen, beurteilen und in der Gesch?ftsleitung informierte Entscheidungen treffen k?nnen?, erkl?rt Schaffner.
Reale Probleme
An diesem Freitag bereiten sich die CAS-Studierenden auf eine gespielte Verwaltungsratssitzung vor. Nach einem interaktiven Online-Modul in den Energiegrundlagen tauchten sie in zwei Vertiefungsmodulen zu Energiesystemen und -netzwerken sowie zum Thema Speicher und Batterien tiefer in die Mathematik und Physik ein. ?Nun sollen sie das technische Know-how in ihrer eigentlichen Rolle zur Anwendung bringen?, erz?hlt Schaffner. Nachdem sich die Teilnehmenden in eine Fallstudie der Industrie eingearbeitet haben, haben sie heute die Gelegenheit, Kopka, der dieselbe Fallstudie in seinem ersten Masterstudienjahr mit fünf Kommiliton:innen bearbeitet hat, kritische Fragen zu stellen. In der gestellten Sitzung am Folgetag müssen die CAS-Studierenden argumentieren, welche Entscheidungen sie im Verwaltungsrat aufgrund der Resultate der Fallstudie treffen würden.
??Die Industrie muss Investitionsentscheide treffen, die grosse Auswirkung auf die Zukunft haben.??Christian Schaffner, Leiter des Energy Science Centers der ETH
Das ausgeklügelte Unterrichtskonzept basiert auf realen Problemen, mit denen Unternehmen im Energiesektor derzeit konfrontiert sind. Die Fallstudien werden von Industriepartnern wie der Firma Hitachi Energy zur Verfügung gestellt, die sich dafür interessiert, wie Energienetze auch im Rahmen des Klimawandels zuverl?ssig funktionieren k?nnen. ?Der Klimawandel führt zu h?ufigeren und heftigeren Wetterereignissen. Wir müssen deren Einfluss auf die Energieversorgung verstehen, um die Nachhaltigkeit und Widerstandsf?higkeit unserer Energiesysteme sicherzustellen?, erkl?rt die Wissenschaftlerin Elise Fahy von Hitachi Energy.
Sie hat die Masterstudierenden bei der Bearbeitung des Falls mit technischem Wissen unterstützt und die Arbeit mit den motivierten Studierenden sehr gesch?tzt. ?Wir haben eine komplexe Aufgabe vor uns. Der Austausch mit den zukünftigen Fachpersonen hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, voneinander und gemeinsam zu lernen – besonders in einem Feld, das sich fortlaufend weiterentwickelt?, sagt sie weiter. Die Resultate der Studierenden – dass der steigende Strombedarf zur Kühlung an Hitzetagen eine deutliche Herausforderung für die Stromversorgung darstellt – k?nnten die weiterführenden Studien der Firma beeinflussen. Ihr sei es wichtig, durch ihre Mitarbeit im Masterprogramm die n?chste Generation an Wissenschaftler:innen zu unterstützen, erkl?rt Fahy.
Das grosse Ganze
Im CAS-Modul sorgt derweil das Aufeinandertreffen der quantifizierenden Sichtweise des Ingenieurs mit der umfassenderen Perspektive der Businesswelt für einige Diskussionen: ?Zuerst fand ich die Berechnungen, die nur auf die Auswirkungen eines Temperaturanstiegs auf die Stromproduktion fokussieren, v?llig unrealistisch?, sagt die CAS-Teilnehmerin Federica Hunziker. Doch zunehmend sei ihr klar geworden, dass man – um das grosse Ganze zu l?sen – viele detaillierte Studien brauche.
Schaffner findet solche Diskussionen besonders spannend: ?Wenn Management- und Ingenieurperspektiven zusammenkommen, bist du sofort in einer komplexen Umgebung. Es gibt kein Richtig und Falsch, sondern nur qualitative und quantitative Einsch?tzungen?, meint er. Die Wirtschaftsabsolventin Hunziker ist der Meinung, dass es beides braucht: ?Ingenieur:innen, aber auch Generalist:innen, die jenes Wissen in den grossen Kontext einbetten?.
Hunziker arbeitet für die Pfiffner Group, die Komponenten für die Stromübertragung herstellt. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien und sogenannten Smart Grids, bei denen Stromerzeugung, Verbrauch und Steuerung intelligent gesteuert werden, hat für ihre Firma konkrete Konsequenzen: ?Da nicht nur in die Stromerzeugung investiert, sondern auch das Stromnetz ausgebaut wird, werden unsere Ger?te in noch gr?sserem Umfang gebraucht?, erkl?rt sie.
Mit dem CAS fühlt sie sich kompetenter und f?hig, mit Ingenieur:innen zu diskutieren und deren Meinung abzuholen, die – wie sie findet – vor allem in der Politik unterrepr?sentiert ist. ?Ich merke allerdings auch, wie schwierig es ist, sich eine klare Meinung zu Energiethemen zu bilden: Alles h?ngt zusammen, und jede Entscheidung zieht positive und negative Auswirkungen in zahlreichen anderen Bereichen mit sich?, erz?hlt Hunziker.
Kontaktb?rse für Fachleute
Der Austausch zwischen Masterstudierenden, CAS-Teilnehmenden und Industriepartnern ist fachlich ertragreich, bietet darüber hinaus aber auch eine willkommene Plattform, um Kontakte zu knüpfen: ?Die Firmen suchen Fachleute, und viele unserer Masterstudierenden absolvieren Praktika bei den Industriepartnern oder erhalten gar ihre erste Stelle über solche Netzwerke?, meint Schaffner.
Elise Fahy ist sich sicher, dass sie als Betreuerin der Fallstudie den Studierenden wertvolle Einsichten in die m?glichen Bet?tigungsfelder nach dem Studium geben kann. Auch die CAS-Teilnehmerin Beatriz Carone, die für eine Firma in der energieintensiven Metallproduktion t?tig ist, ist an neuen gesch?ftlichen Partnerschaften interessiert und hat immer eine Visitenkarte zur Hand. Als studierte Bergbauingenieurin ist sie im CAS eine Ausnahme. Doch sie weiss genau, warum sie von dieser Weiterbildung profitieren kann: ?Das Feld der Energietechnologien bietet viele M?glichkeiten, doch man wird schnell abgeh?ngt, wenn man nicht mit den Entwicklungen Schritt h?lt?, sagt sie.
Im CAS m?chte sie sich das Wissen aneignen, um im Tagesgesch?ft informierte Entscheidungen zu treffen. Doch auch sie hat gemerkt: ?In diesem Feld gibt es viele verschiedene L?sungen für ein Problem. Es ist daher zentral, die technischen und wirtschaftlichen Aspekte zu begreifen, um die richtige Entscheidung für die eigene Firma zu treffen.?
Wegweisend für die Gesellschaft
In der komplexen Welt der Energietechnologien sieht Christian Schaffner das Energy Science Center als Leuchtturm, der den Weg in Richtung einer sicheren und nachhaltigen Energieversorgung weist. Er m?chte das ESC, das 55 Professuren vereint, als zentrale Anlaufstelle in der Schweizer Energielandschaft etablieren.
?Uns ist wichtig, dass die Bev?lkerung, die Politik und die Industrie wissen, dass sie hier eine wissenschaftsbasierte Einsch?tzung zum Thema Energie abholen k?nnen?, erkl?rt er. Deshalb hat das Center im Juni das Positionspapier ?Schritte zur fossilen Unabh?ngigkeit für die Schweiz? ver?ffentlicht, in dem ETH-Expert:innen ihre Erkenntnisse darlegen. ?Diese Funktion, gesammeltes Wissen zu übermitteln, kann keine einzelne Professur übernehmen, sondern nur ein Zusammenschluss wie das ESC?, führt Schaffner weiter aus.
Auch wenn viele Aspekte im Positionspapier aus wissenschaftlicher Sicht Common Sense sind, sieht er eine Aufgabe der ETH darin, diese Erkenntnisse der breiten Bev?lkerung zu übermitteln. Ob mit der ?ffentlichen Veranstaltung ?Energy Week? oder durch sein Engagement für eine Energie-Ausstellung im Verkehrshaus Schweiz: Christian Schaffner ist Vermittler mit Herz und Seele und macht sich daher auch Gedanken über die Rolle der ETH im Weiterbildungsmarkt: ?Ich habe mich gefragt: Was ist die Kernkompetenz der ETH, die wir weitergeben k?nnen? Ich glaube, wir haben mit dem CAS ein gutes Beispiel geschaffen, wie wir ingenieur- und naturwissenschaftliche Themen einem Publikum vermitteln k?nnen, das eine andere Ausbildung genossen hat?, findet er.
Schaffner versteht sich vor allem als Erm?glicher, der Masterstudierende, Industriepartner und CAS-Teilnehmende an einen Tisch bringt, um den Austausch zu f?rdern. ?Im Kurs zu sehen, dass sich auch andere Leute über die Energiewende Gedanken machen, motiviert mich, die Herausforderung anzupacken?, betont auch CAS-Teilnehmerin Carone. Fast unbemerkt zwischen den mathematisch anspruchsvollen Inhalten des Kurses sorgt die gemeinsame Arbeit an den Fallstudien für ein Zusammengeh?rigkeitsgefühl als Gemeinschaft, die sich für die Energiewende stark macht.
Gemeinsame Initiative
Forschung im Bereich Energie sowie das Energy Science Center wurden durch bedeutende Donationen an die ETH Foundation erm?glicht. F?rderpartner sind ABB Schweiz, Alpiq, Axpo, das Bundesamt für Energie (BFE), BKW, CKW, EKZ, EWZ, GE Power, Repower, Shell, Swissnuclear sowie die Werner Siemens-Stiftung.
?Globe? Energie mit Zukunft
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.