Wie mikrobielle Gemeinschaften die Meeresökologie prägen

Ein internationales Forschungsprojekt unter Co-Leitung der ETH Zürich und des MIT erh?lt von der New Yorker Simons Foundation erneut 15 Millionen US-Dollar, um das Verhalten von Meeresbakterien und Mikroalgen zu untersuchen. Im Fokus stehen mikrobielle Gemeinschaften, welche den Kohlenstoffkreislauf im Ozean beeinflussen.

Eine Illustration, wie Meeresbakterien einen Nährstoffpartikel besiedeln.
Meeresbakterien besiedeln einen absinkenden N?hrstoffpartikel und bauen das organische Material ab. Die Verwertung von Meeresschnee ist ein Schlüsselprozess im Kohlenstoffkreislauf des Ozeans. (Bild: Lambert, Fernandez, Stocker / ETH Zürich)

Ohne Mikroorganismen g?be es kein h?heres Leben. Bakterien und einzellige Algen bilden dynamische Gemeinschaften, die fundamentale ?kologische Prozesse steuern: Sie bauen Biomasse auf, zersetzen totes organisches Material und rezyklieren die Elemente des Lebens. ?Trotz ihrer enormen Bedeutung ist über das Wesen mikrobieller Gesellschaften noch immer wenig bekannt?, sagt ETH-Professor Roman Stocker vom Institut für Umweltingenieurwissenschaften.

Seit Mai 2017 sucht Stocker zusammen mit seinem Team und neun Forschungsgruppen verschiedener Hochschulen nach Funktionsprinzipien, die mikrobiellen ?kosystemen im Ozean zugrunde liegen. Das Projekt Principles of Microbial Ecosystems (PriME) wird gemeinsam von der ETH Zürich und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) geleitet und von der US-amerikanischen Simons Foundation finanziell gef?rdert (siehe Medienmitteilung). Stocker ist Co-Direktor von PriME und hatte das Vorhaben vor sechs Jahren mitinitiiert.

Kürzlich ging PriME in die zweite Runde: Die Simons Foundation unterstützt das Konsortium in der zweiten Projektphase erneut mit 15 Millionen US-Dollar, um in den n?chsten fünf Jahren die Interaktionen von Meeresbakterien und einzelligen Algen auf der Mikroskala zu analysieren. Und wieder sind drei Forschungsgruppen der ETH Zürich mit dabei: Die Professoren Martin Ackermann, Uwe Sauer und Roman Stocker erhalten von der New Yorker Stiftung zusammen 4,2 Millionen US-?Dollar. Das übergeordnete Ziel bleibt gleich: Die Projektpartner wollen verstehen, wie marine Mikroben Gemeinschaften bilden und wie diese Verb?nde funktionieren.

Ingenieurwissen für neue Forschungswerkzeuge

Die Dynamik mikrobieller Gesellschaften wird durch das Verhalten ihrer Mitglieder bestimmt – und diese sind oft alles andere als tr?ge: ?Viele Mikroben k?nnen schwimmen. Sie nehmen ihre Umwelt aktiv wahr, bewegen sich gezielt und interagieren mit ihr?, erl?utert Stocker.

Das Zusammenspiel dieser Zellen sichtbar zu machen, ist allerdings schwierig. In einem einzigen Tropfen Meerwasser wimmeln mehr als eine Million Mikroben. ?Die Skala bakterieller Interaktionen ist derart klein, dass wir sie mit g?ngigen ozeanografischen Methoden schlicht nicht untersuchen k?nnen?, erkl?rt der Umweltingenieur. In seinem Labor am Departement für Bau, Umwelt und Geomatik entwickelt er Verfahren für die Mikro?kologie, die diese methodische Lücke schliessen.

Stocker ist Pionier auf dem Gebiet der Umwelt-Mikrofluidik. Seine Gruppe nutzt Techniken der Mikrofluidik, mit denen sonst etwa Chemieingenieure Kleinstmengen an Flüssigkeiten handhaben, und kombiniert diese mit moderner Mikroskopie und Bildgebung, um Mikro?kosysteme zu studieren.

Verhaltenstests für individuelle Mikroben

Mit der Umweltmikrofluidik kann man etwa das Verhalten einzelner Mikroben hochaufgel?st visualisieren und gleichzeitig Stoffwechselprozesse quantifizieren. Das er?ffnet neue Perspektiven: ?Wir k?nnen nicht nur verfolgen, wie sich einzelne Zellen bewegen und entscheiden, sondern auch prüfen, warum sie das tun?, erkl?rt der Umweltingenieur.

Auf einem Objektiv eines Mikroskop liegt ein einzelner Mikrofluidik-Kanal in einer transparenten Kunststoffplatte.
Ein einzelner Mikrofluidik-Kanal in einer transparenten Kunststoffplatte mit Zufuhr- und Abflussleitungen, darunter das Objektiv eines Mikroskops. (Bild: Stockerlab / ETH Zürich)

Ein Beispiel ist der chemische Pr?ferenztest für Mikroben, den die ETH-Forschenden speziell für den Einsatz im freien Ozean entwickelten. Der ?In situ Chemotaxis Assay?, kurz ISCA, besteht aus einer kreditkartengrossen Kunststoffplatte mit kleinen Kammern im Innern, die über feine Kan?le mit der Aussenwelt verbunden sind – eine Art Hummerfalle im Mikroformat. Bakterien, die den ?Geruch? eines Lockstoffs in der Falle m?gen, folgen der Spur und schwimmen hinein.

Links: ein Mikrofluidik-Chip. Rechts: Verwendung des Mikrofluidik-Chip, um zu testen, wie und ob Mikroben auf bestimmte Substanzen reagieren.
Der ?In situ Chemotaxis Assay? (ISCA) ist ein Mikrofluidik-Chip (links), mit dem man direkt im Ozean testen kann, ob und wie stark Mikroben auf bestimmte Substanzen reagieren (rechts) . (Bild: Stockerlab / ETH Zürich)

Die F?higkeit von Bakterien, gezielt in Richtung h?her konzentrierter Substanzen zu schwimmen oder sich zu entfernen, wird Chemotaxis genannt. Bis vor Kurzem war dieses Verhalten lediglich aus Laborversuchen bekannt.

Marine Mikroben finden Futter chemotaktisch

Mit dem Mikrofluidik-Chip ISCA konnte Stockers Team zusammen mit australischen Kolleg:innen erstmals untersuchen, wie Meeresbakterien im Ozean Nahrung suchen. In einer viel beachteten Studie in externe SeiteNature im letzten April konnten die Forschenden zeigen, dass verschiedenste Bakterienarten in den Küstengew?ssern vor Sydney tats?chlich Chemotaxis nutzen, um Phytoplankton aufzuspüren – das sind Mikroalgen, die CO2 aus dem Wasser aufnehmen und mittels Photosynthese organische Stoffe produzieren. Ein Teil der synthetisierten Stoffe wird von den Algen ins Meerwasser abgegeben und bildet die Leibspeise von Bakterien: In einer sonst n?hrstoffarmen Umgebung erschnüffeln sie ihr Futter und navigieren gezielt in Richtung dieser mikroskaligen Hotspots gel?ster Nahrungsmoleküle.

Dass Wildbakterien ihr Futter mittels Chemotaxis finden, hatte man w?hrend Jahrzehnten vermutet, im freien Ozean aber bislang nie best?tigt. Der Befund ist ?kologisch relevant: Wenn bewegliche Bakterien gezielt Nahrung suchen, erh?ht sich ihre Erfolgsrate markant. Das erm?glicht es auch seltenen Mikroben, sich zahlreich um eine Futterquelle zu scharen.

So tummeln sich um einzelne lebende Phytoplanktonzellen stets etliche Bakterienarten, die sich von ihren Syntheseprodukten ern?hren. Es ist eine der wichtigsten Interaktionen von Mikroorganismen im Meer: Der kollektive Stoffwechsel dieser mikrobiellen Gemeinschaft verwertet organisches Material, rezykliert CO2 und treibt so den Kohlenstoffkreislauf im Ozean an.

Abbau von Meeresschnee d?mpft Kohlenstoffpumpe

Das Phytoplankton ist auch Protagonist einer weiteren bedeutenden Interaktion, bei der es als Meeresschnee in die Tiefe rieselt. Das Ph?nomen rührt von den Abermilliarden einzelligen Algen her, die in den lichtdurchfluteten oberen Wasserschichten wachsen, dann sterben und als organische Partikel Richtung Meeresboden absinken. So transportiert die ?biologische Kohlenstoffpumpe? kontinuierlich gebundenen Kohlenstoff in die Tiefe. Allerdings bremst ein gegenl?ufiger Prozess den Kohlenstofffluss: W?hrend des Absinkens werden die Schneeflocken von unz?hligen Bakterien besiedelt, die das organische Material gr?sstenteils zersetzen und CO2 produzieren.

Unterwasserbild von Meeresschnee
Meeresschnee ist ein Schauer aus organischem Material, das in die Tiefsee sinkt. (Bild: National Ocean Service NOAA)

?Auch wenn nur ein Bruchteil des Kohlenstoffs den Boden erreicht und eingelagert wird, sorgt die biologische Kohlenstoffpumpe dennoch dafür, dass die Meere grosse Mengen CO2 aus der Atmosph?re aufnehmen?, erkl?rt Stocker. Sein Team nahm das mikrobielle Gerangel auf der Fracht in die Tiefe genauer unter die Lupe und fand heraus, dass die Bakterien sinkende Partikel bis zehnmal schneller zersetzen als bisher aufgrund von Laborversuchen in str?mungsfreiem Wasser angenommen. Ein hochaufgel?ster Blick auf die mikroskalige Dynamik um die rieselnden Flocken offenbarte den Grund: Die sinkbedingte Str?mung schwemmt laufend Nebenprodukte des Abbaus fort, die den bakteriellen Enzymen sonst zusehends die Arbeit erschweren.

Portraitfoto von Roman Stocker. Er trägt eine Brille sowie einen blauen Pullover über einem lilafarbenen Hemd. Er lächelt.
?Um etwa die Folgen des Klimawandels für ?kologische Schlüsselprozesse besser absch?tzen zu k?nnen, ist es entscheidend zu wissen, wie die vielen Arten in mikrobiellen Gesellschaften miteinander zusammenspielen.?
Portraitfoto von Roman Stocker. Er trägt eine Brille sowie einen blauen Pullover über einem lilafarbenen Hemd. Er lächelt.
Roman Stocker

Damit verringert sich die Menge an Kohlenstoff, die den Meeresboden erreicht. Aufgrund von Modellrechnungen des Kohlenstoffflusses sch?tzen die Forschenden, dass der verst?rkte Partikelabbau die theoretische Transporteffizienz der Kohlenstoffpumpe auf die H?lfte reduziert, was mit makroskopischen Messungen des realen Kohlenstofftransports im Ozean gut übereinstimmt.

Fokus auf ?kologische Schlüsselprozesse

In den vergangenen fünf Jahren brachte das Prime-Konsortium über 60 Publikationen hervor; die meisten beleuchten, wie Mikroben Futter finden und wie sie es verwerten. Im Folgeprojekt wollen sich die Partner nun bewusst auf die beiden ?kologisch bedeutenden Mikro?kosysteme um Phytoplankton und marine Schneepartikel konzentrieren. Konkret geht es darum, die Wechselwirkungen zwischen Bakterien und einzelligen Algen sowie jene zwischen Bakterien und Meeresschnee vertieft zu erforschen.

An der ETH wird Stocker dazu eng mit Martin Ackermann und Uwe Sauer kooperieren. Ackermann ist Direktor der Eawag und leitet die Gruppe für mikrobielle ?kologie an der ETH, der Eawag und der EPFL. Er ist Experte für bakterielle Individualit?t und bringt ein tiefes Verst?ndnis ins Team ein, wie Wechselwirkungen zwischen einzelnen Bakterienzellen die Gemeinschaft beeinflussen. Sauer ist Systembiologe und Spezialist für bakterielle Stoffwechselprozesse. Er tr?gt modernste Methoden bei, um die von Mikroben in Gemeinschaften ausgetauschten Stoffe  hochaufgel?st zu messen. Vereint wollen die Forschenden eine Brücke schlagen vom Verhalten einzelner Zellen hin zur ?kologischen Funktion der Meere. Dazu z?hlen nicht zuletzt die Auswirkungen der mikrobiellen Gemeinschaften auf den Kohlenstofffluss im Ozean.

?Denn um etwa die Folgen des Klimawandels für ?kologische Schlüsselprozesse besser absch?tzen zu k?nnen, ist es entscheidend zu wissen, wie die vielen Arten in mikrobiellen Gesellschaften miteinander zusammenspielen?, h?lt Stocker fest. So kann das Studium des Kleinsten helfen, unsere Welt im Grossen besser zu verstehen.

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