Die Macht der Gewohnheit

Leben heisst, sich immer wieder zu entscheiden. Dabei trifft nüchternes Denken auf grosse Emotionen, bewusstes Wahrnehmen auf intuitives Handeln. Wie das genau zusammenspielt, ergründen ETH-Forschende mit komplexen Modellen und raffinierten Experimenten.

Eine Person präsentiert auf der einen Hand einen Apfel, auf der anderen einen Donut.
Apfel oder Donut? Ob wir dieser Entscheidung vertrauen, h?ngt davon ab, wie bewusst wir sie getroffen haben. (Bild: Colourbox.com)

Insekten? Michael Siegrist ist skeptisch. Als ETH-Professor für Konsumentenverhalten stellt er immer wieder fest, dass Menschen beim Thema Essen sehr konservativ sind. ?Wenn man die Ern?hrung nachhaltiger gestalten will, dann sind Insekten wohl der mühsamste Weg. Insekten l?sen bei fast allen Menschen Ekel aus, das l?sst sich nicht so einfach überwinden.?

Siegrist muss es wissen, denn er erforscht mit seinem Team, wie Konsument:innen sich im Alltag von ihren Emotionen leiten lassen. Und diese sind oft st?rker als das rationale Denken. Die ETH-Forschenden konnten in verschiedenen Experimenten nachweisen, dass wir uns von symbolhaften Informationen viel st?rker beeinflussen lassen als von Fakten. Oder anders gesagt: Bilder sind m?chtiger als Zahlen.

Legt man Proband:innen etwa den Benzinverbrauch von zwei Autofahrern vor, dann finden fast alle, derjenige mit dem tieferen Benzinverbrauch verhalte sich umweltfreundlicher. Legt man jedoch offen, dass derjenige mit dem tieferen Benzinverbrauch einen SUV f?hrt, der andere hingegen einen Kleinwagen, ?ndert sich die Beurteilung komplett: Der SUV-Fahrer wird trotz tieferem Energieverbrauch als weniger umweltfreundlich wahrgenommen. ?80 Prozent der Proband:innen kommen zu dieser falschen Einsch?tzung?, h?lt Siegrist fest. ?Das finde ich erstaunlich.?

Besonders stark wirkt die symbolhafte Ebene bei der Ern?hrung. ?Beim Essen wollen die Leute keine Technik, sondern Natur?, stellt Siegrist lapidar fest. Das h?nge mit dem naiven Naturverst?ndnis zusammen, das sich in unseren K?pfen festgesetzt habe – kr?ftig unterstützt von den Marketingabteilungen der Firmen und der Politik. ?Dabei k?nnen wir die Natur nur überh?hen, weil wir dank der Technik zum Beispiel viele Probleme bei der Lebensmittelsicherheit überwunden haben.?

Portrait Michael Siegrist
?Ekel ist eine m?chtige Emotion.?
Portrait Michael Siegrist
Michael Siegrist

Interessant ist dabei, dass der technische Wandel in der Küche ganz andere Spuren hinterl?sst als im Wohnzimmer oder Büro. Floppy Disks, R?hrenbildschirme, CDs sind aus unserem Alltag l?ngst verschwunden. In der Küche hingegen verdr?ngen neue Technologien die alten nicht, sondern erg?nzen sie. ?Wir brauchen keine Büchsen mehr und müssen unser Essen nicht mehr über dem offenen Feuer zubereiten?, erkl?rt Siegrist. ?Dennoch kaufen wir Früchte in Konserven und grillieren auf dem Balkon.?

Bei seinen Aussagen stützt sich der Forscher auf die Resultate des ?Ern?hrungs-Panels Schweiz?, bei dem er zusammen mit seinem Team das Konsumverhalten der Schweizer:innen detailliert dokumentiert hat. Die Forschenden analysierten auch intuitive Essstrategien und wie sich die Essgewohnheiten der Partner:in auf das eigene Essverhalten auswirken. Siegrists Fazit: Wir ?ndern unser Essverhalten nur langsam, es sei denn, wir werden von externen Faktoren dazu gezwungen. Für Siegrist ist das wenig erstaunlich: ?Wir überlegen uns schliesslich nicht jeden Tag neu, wie wir uns ern?hren wollen.?

Vom technischen Fortschritt profitiert Siegrist auch in seiner eigenen Forschung. ?Vor 20 Jahren nutzten wir für unsere Studien haupts?chlich gedruckte Fragebogen?, erinnert er sich. ?Heute k?nnen wir unseren Proband:innen dank Video und virtueller Realit?t (VR) ganz andere Reize pr?sentieren.? So forderte Siegrists Team die Proband:innen bei einem Ekelexperiment beispielsweise auf, ein reales Schokoladenstück zu essen, w?hrend ihnen gleichzeitig mit einer VR-Brille ein neutraler Tisch oder ein kotender Hund gezeigt wurde. Obwohl Hund und Kot klar als fiktive Gestalten erkennbar waren, weigerte sich ein grosser Teil der zweiten Gruppe, die Schokolade zu essen. ?Ekel ist eine m?chtige Emotion?, meint Siegrist, ?sie wirkt viel st?rker als die Kognition.?

Hilft Intuition den Frauen?

Auch Katharina Fellnhofer nutzt Laborexperimente, um das Entscheidungsverhalten von Menschen besser zu verstehen. Die Forscherin, die zurzeit als Marie-Curie-Stipendiatin an der Professur für Bildungssysteme arbeitet, hat dabei einen noch kaum erforschten Aspekt im Fokus: Welche Rolle spielt die Intuition bei unseren Entscheidungen? Und wie k?nnen wir sie nutzen, um bessere Entscheidungen zu treffen?

Um diese Frage zu untersuchen, setzt Fellnhofer eine neu entwickelte Methode ein. Sie setzt den Kandidat:innen zun?chst Grafiken vor, welche die Gewinnentwicklung von (realen) Unternehmen über fünf Jahre hinweg zeigen. Die Proband:innen müssen dann in kurzer Zeit entscheiden, ob sie in diese Unternehmen investieren wollen oder nicht. Bei der H?lfte der Firmen lohnt sich das Investment, wie man anhand der Gewinnentwicklung der nachfolgenden fünf Jahre erkennt, bei der anderen H?lfte nicht. ?Im Grunde ?hnelt meine Messmethode einem Zufallsspiel?, h?lt sie fest. ?Deshalb sollten Frauen genauso gut abschneiden wie M?nner.? Dem war jedoch nicht so: Frauen f?llen deutlich schlechtere Investment-Entscheide als M?nner.

Portrait Katharina Fellnhofer
?Intuition hilft vor allem bei schnellen, risikobehafteten Entscheidungen.?
Portrait Katharina Fellnhofer
Katharina Fellnhofer

Bei der H?lfte der Grafiken sehen die Proband:innen allerdings mehr, als ihnen bewusst ist. Dort hat Fellnhofer emotional aufgeladene dreidimensionale Bilder mit einer speziellen Technik versteckt, welche die Proband:innen nur unbewusst wahrnehmen k?nnen. Führt man nun das Experiment mit Grafiken durch, bei denen im Hintergrund emotional aufgeladene Bilder als zus?tzliche Botschaften zur richtigen Entscheidungsfindung versteckt sind, schneiden die Frauen besser ab als mit den neutralen Grafiken und erzielen vergleichbare Resultate wie die M?nner. ?Frauen k?nnen also durch diese nur intuitiv wahrnehmbaren Informationen einen Nachteil ausgleichen.?

In ihren Studien hat Fellnhofer festgestellt, dass die Proband:innen bereits nach kurzer Zeit ihre Entscheidungen verbessern k?nnen. Sie haben also unbewusst gelernt. Fellnhofer m?chte in einem weiteren Schritt ihre Messmethode verfeinern, damit sie untersuchen kann, ob und in welchem Ausmass Intuition bewusst trainiert werden kann.

Die Intuition kann uns also helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, schliesst Fellnhofer. ?Das ist vor allem der Fall, wenn wir schnell risikobehaftete Entscheidungen treffen müssen.? Allerdings müsse man berücksichtigen, dass die Intuition durch eine Vielzahl von Faktoren wie beispielsweise Erinnerungen an frühere Ereignisse beeinflusst wird. Im Besonderen spielt die Erfahrung eine tragende Rolle: ?Ein erfahrener Schachspieler erkennt sofort intuitiv mit minimalem kognitivem Aufwand, welches der beste Zug ist, und ist damit viel schneller als ein Anf?nger.? Intuition als Forschungsthema sei herausfordernd, da diese eben nicht so leicht zu fassen sei. ?Intuition ist derart facettenreich, dass wir Experimente ben?tigen, welche die ganze Bandbreite an Aspekten aus unterschiedlichen Disziplinen abdecken k?nnen.?

Die Ressourcen optimal nutzen

Genau diese verschiedenen Aspekte will ETH-Professor Rafael Polania, Leiter des Labors für Neurowissenschaft der Entscheidungsprozesse, zusammenbringen. ?Alle Organismen treffen Entscheide anhand der Signale, die sie von ihrer Umwelt erhalten?, erkl?rt er. ?Je komplexer der Organismus, desto komplexer sind auch die Entscheide.? Dennoch stelle sich für alle Lebewesen im Grunde genommen die gleiche Aufgabe: Wie nutzen sie die von der Biologie vorgegebenen Ressourcen optimal, um m?glichst gute Entscheidungen zu treffen?

Polanias Ziel ist es, das Verhalten von Lebewesen anhand mathematischer Modelle vorauszusagen. ?Wir versuchen in unseren Modellen, die relevanten Faktoren abzubilden, die unsere Entscheide beeinflussen. Die Voraussagen der Modelle k?nnen wir danach experimentell überprüfen.? Dabei berücksichtigt der Forscher Erkenntnisse aus ganz unterschiedlichen Disziplinen wie Psychologie, Informatik, Neurobiologie und ?konomie.

Portrait Rafael Polania
?Je komplexer der Organismus, desto komplexer sind auch die Entscheide.?
Portrait Rafael Polania
Rafael Polania

Die Resultate h?tten für viele Disziplinen Konsequenzen, ist Polania überzeugt. ??konom:innen dachten lange, Menschen würden grunds?tzlich rational entscheiden. Sie verstanden daher nicht, warum Menschen in gewissen Situationen Risiken vermeiden, obwohl die rationale Abw?gung dagegen spricht. Berücksichtigt man die biologischen Beschr?nkungen, dann versteht man das besser.? Polania erw?hnt zwei entscheidende Faktoren, die unser Verhalten pr?gen: Zum einen verarbeitet unser Gehirn bekannte Situationen schneller und differenzierter als neue. Es f?llt uns daher leichter, Menschen aus unserem eigenen Kulturkreis zu unterscheiden als Menschen aus fernen L?ndern. ?Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern liegt an der Informationsverarbeitung im Gehirn?, meint Polania. Der zweite Faktor ist unser Bestreben, neue Wahrnehmungen mit bisherigen Erfahrungen zu verbinden. ?Menschen m?gen Dinge, die neu sind, aber doch nicht zu weit weg vom Bekannten?, erl?utert Polania. ?Wenn es uns gelingt, eine neue Erfahrung mit dem Bekannten zu verbinden, dann gibt uns das ein positives Gefühl.?

Wie Menschen Entscheidungen treffen, ist auch für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz von Interesse. Denn auch bei Maschinen geht es darum, die beschr?nkten Rechenkapazit?ten optimal einzusetzen. Dementsprechend ist es auch für diese naheliegend, sich an das bereits Bekannte zu halten. Dass ein Chatbot anf?ngt, sich rassistisch zu ?ussern, oder eine Fahndungssoftware dazu neigt, gewisse Gruppen zu diskriminieren, überrascht Polania vor diesem Hintergrund nicht. Doch das lasse sich ?ndern, ist er überzeugt: ?Wenn wir den Mechanismus verstehen, der zu diesen Fehlfunktionen führt, k?nnen wir ihn korrigieren.?

Schliesslich gibt es noch einen weiteren Aspekt, der bei der Entscheidungsfindung hilft: die F?higkeit zur Selbstbeobachtung. ?Wer ein Gefühl entwickelt, wie gut seine Einsch?tzung ist, verfügt über einen wichtigen Korrekturmechanismus und macht weniger Fehlentscheide?, erkl?rt Polania. In einer neuen Studie konnte er zeigen, dass gerade diese F?higkeit gute Führungspers?nlichkeiten auszeichnet. ?Es gibt sehr optimistische Menschen, die überzeugt sind, immer richtig zu liegen. Und es gibt pessimistische, die ihre Entscheide st?ndig hinterfragen. Beides ist nicht hilfreich?, meint Polania. ?Man muss die richtige Balance finden – und Introspektion hilft dabei.?

Zu den Personen

Katharina Fellnhofer ist Marie Curie Fellow an der ETH Zürich und der Harvard University und forscht derzeit am Departement Management, Technologie und ?konomie.

Rafael Polania ist Assistenzprofessor für Neurowissenschaft der Entscheidungsprozesse am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie.

Michael Siegrist ist Professor für Konsumentenverhalten am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie.

?Globe? Emotional!

Globe 23/01 Titelblatt: Bleistift-Zeichnung eines Gesichtes mit übberaschtem Ausdruck

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/01 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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