Umkämpfte Ressource

Der Ausbau der Wasserkraft führt immer wieder zu Zielkonflikten – in der Schweiz und weltweit. Forschende der ETH Zürich erarbeiten Grundlagen für Kompromisse im ?ffentlichen Interesse.

Weitwinkel Foto von dem Staudamm, an dem gebaut wird.
Der Staudamm Gibe III am Fluss Omo in ?thiopien (2016). (Foto: Wikimedia Commons / Mimi Abebayehu)

Die Schweiz ohne Wasserkraft, sie w?re schwach und lahm. 1500 Lauf- und Speicherwasserkraftwerke verstreut über das gesamte Land liefern heute mithilfe von Turbinen und Generatoren rund 60 Prozent der nationalen Elektrizit?t. Und in Zukunft dürfte die Wasserkraft noch wichtiger werden: ?Der Anteil Strom am schweizerischen Gesamtenergiemix wird bis 2050 von heute 27 Prozent auf 38 bis 46 Prozent ansteigen?, sagt Robert Boes, Professor für Wasserbau an der ETH Zürich. Dies, weil fossile Energien für eine erfolgreiche Energiewende ersetzt und immer mehr Nutzungen elektrifiziert werden, zum Beispiel Individualverkehr. Hinzu kommt, dass das letzte Schweizer Atomkraftwerk in gut zehn Jahren vom Netz gehen soll. Photovoltaik, Windenergie und Wasserkraft müssen entsprechend ausgebaut werden. Stauseen haben den Vorteil, dass sie auch grosse Mengen Energie über l?ngere Zeitr?ume effizient speichern k?nnen. Das ist besonders für die sonnenarmen Wintermonate zentral.

Aus- und Neubauten kombinieren

?Die Speicherkraft des Wassers ist für die Energiewende in der Schweiz ein grosser Trumpf?, ist Robert Boes überzeugt. Seine Forschungsgruppe hat in den letzten Jahren intensiv zum Potenzial des Aus- und Neubaus von Stauseen in der Schweiz geforscht. 2020 berechnete sie, wie viel Strom zus?tzlich produziert werden k?nnte, wenn die Talsperren von 38 bestehenden Speicherseen in den Schweizer Alpen mit einem Nutzvolumen von mindestens 20 Millionen Kubikmeter Wasser um 5, 10 oder 20 Prozent erh?ht würden. Die Forschenden bewerteten das Potenzial anhand von acht Kriterien, darunter die Auswirkung auf Schutzgebiete und bestehende Infrastrukturen und die M?glichkeit zur Umlagerung der Stromverfügbarkeit in den Winter. Das Ergebnis: Wenn 17 bis 26 der untersuchten Stauseen ausgebaut würden, k?nnten 2,2 bis 2,9 Terawattstunden (TWh) Strom pro Jahr zus?tzlich vom Sommer- in das kritische Winterhalbjahr umgelagert werden. Damit k?nnte die Elektrizit?tsproduktion im Winterhalbjahr durch Wasserkraft von aktuell 48 Prozent auf bis zu 62 Prozent der Jahresproduktion gesteigert werden.

Boes‘ Gruppe berechnete auch das Potenzial von Neubauten in 62 zuvor identifizierten Gletscherrückzugsgebieten. Da, wo einst grosse Eismassen lagen, entstehen bald neue, natürliche Seen oder freie Gebiete, die für Stauseen genutzt werden k?nnen. ?Beim Triftgletscher im Kanton Bern zum Beispiel hat sich das Eis in nur zehn Jahren so weit zurückgezogen, dass der See schon heute für die Stromproduktion genutzt werden k?nnte?, erz?hlt Boes. Im Umfeld solcher neu geformter Gletscherseen gibt es oft nur wenig bestehende Infrastrukturen und die frei werdenden Fl?chen stehen in der Mehrzahl der F?lle nicht unter Schutz. Boes‘ Analyse zeigt, dass neue Wasserkraftwerke an den zw?lf am besten dafür geeigneten Orten unter Berücksichtigung von Biotopen nationaler Bedeutung 1 bis 1,2 TWh Strom pro Jahr durch natürlichen Zufluss produzieren. Werden die bereits gebauten Wasserkraftwerke flussabw?rts mitberücksichtigt, k?nnen weitere 1,4 bis 1,5 TWh gewonnen werden.

Porträtfoto von Robert Boes
?Die Speicherkraft des Wassers ist für die Energiewende in der Schweiz ein grosser Trumpf.?
Porträtfoto von Robert Boes
Robert Boes

Die Potenzialstudien von Boes‘ Forschungsgruppe waren eine zentrale Grundlage für die Diskussionen des ?Runden Tischs Wasserkraft?, zu dem der Bund Umweltorganisationen, Betreiber von Wasserkraftwerken, Kantons- und Bundesbeh?rden im August 2020 eingeladen hatte. Die Teilnehmenden diskutierten, wie das Ziel von zus?tzlichen 2 TWh Winterstrom bis 2040 produziert werden k?nnte: Elf bestehende Stauseen sollen dafür ausgebaut werden, darunter der Grimselstausee im Kanton Bern und der Mattmarksee im Wallis. Zus?tzlich wurden vier neue Stauseen vorgeschlagen. ?Das Kernstück der Strategie ist der Stausee beim Gornergletscher, der die Speicherkapazit?t um 650 Gigawattstunden (GWh) und die j?hrliche Energieerzeugung um 200 GWh pro Jahr erh?hen k?nnte?, erkl?rt Boes. ?Doch Neubauten sind viel umstrittener als Ausbauten von bestehenden Stauseen.? Sie sorgten auch beim runden Tisch für Kritik: Die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz weigerte sich, die Schlusserkl?rung zu unterzeichnen. Unter anderem, weil der Bau eines Gornerstausees weitreichende Auswirkungen auf eines der letzten unberührten Eisgebirge h?tte, das im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkm?ler von nationaler Bedeutung vermerkt ist. Einmal mehr zeigte sich: Der Ausbau der Wasserkraft – so sinnvoll dieser im Hinblick auf die Klimaziele ist – birgt immer auch Zielkonflikte.

Interessen ausbalancieren

Jemand, der sich seit Jahren mit solchen Zielkonflikten auseinandersetzt, ist Paolo Burlando, Professor für Hydrologie und Wasserwirtschaft an der ETH Zürich. ?Wasserkraftprojekte führen immer zu einer Fragmentierung von Flüssen und haben damit auch Auswirkungen auf die umliegenden ?kosysteme.? Er nennt ein Beispiel aus seiner eigenen Forschung: Die Kafue-Ebene in Zambia ist eine 240 km lange und 50 km breite Fl?che mit Sümpfen, offenen Lagunen und saisonal überfluteten Gebieten. Die Ebene wird vom Fluss Kafue, ein Zufluss des Sambesi, mit Wasser gespeist. Sie ist ein wichtiges Habitat für Antilopen, Zebras, Nilpferde und 450 gef?hrdete Vogelarten. Seit dem Bau von zwei grossen Staud?mmen in den 1970er-Jahren ist die Fl?che jedoch immer seltener überflutet, mit negativen Folgen für die Biodiversit?t. Wie also die Notwendigkeit der Stromproduktion gegenüber dem Schutz der ?kosysteme gewichten?

Porträtfoto von Paolo Burlando
?Wasserkraftprojekte haben auch Auswirkungen auf die umliegenden ?kosysteme.?
Porträtfoto von Paolo Burlando
Paolo Burlando

Zur Beantwortung solcher Fragen entwickeln Burlando und sein Team mathematische Modelle für die integrierte und partizipative Bewirtschaftung von Wasserressourcen. Durch die Simulation von Szenarien sollen Zielkonflikte zwischen Naturschutz, Energieproduktion, Wirtschaftlichkeit und Wasserverfügbarkeit für die Landwirtschaft reduziert werden. Im Rahmen des EU-Projekts ?DAFNE? konnte Burlando ein solches Modell in Zusammenarbeit mit dreizehn Forschungspartnern aus Europa und Afrika sowie Beh?rden und Kraftwerkbetreibern an zwei konkreten Fallbeispielen testen: dem Wassereinzugsgebiet des Sambesi im südlichen Afrika und demjenigen des Flusses Omo zwischen ?thiopien und Kenia. Schlüsselindikatoren für die Modellierung waren unter anderem die Einnahmen von Wasserkraftunternehmen, die verfügbare Wassermenge für landwirtschaftliche Bew?sserung, Abweichungen von der natürlichen ?berflutung von empfindlichen ?kosystemen oder Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Trinkwasser. Auch Simulationen der klimatischen Ver?nderungen flossen mit ein. Im Fall des Sambesi konnten die Forschenden zeigen, dass allein durch eine bessere Koordination der Staudammbetreiber über nationale Grenzen hinweg die Stromproduktion um 20 Prozent erh?ht werden k?nnte. Und dies ohne zus?tzliche negative Auswirkungen auf die ?kosysteme.

Mit dem zweiten Fallbeispiel, Omo-Turkana, widmete sich das DAFNE-Team einem politischen Brennpunkt. ?thiopien hat in den letzten Jahren am Fluss Omo gleich drei Staud?mme gebaut und will das Wasser für grossfl?chigen Zuckerrohranbau im Süden nutzen. Zugleich ist der Omo die einzige Quelle des Turkana-Sees, der praktisch vollumf?nglich in Kenia liegt und von dessen Wasser tausende von Nomaden und deren Nutztiere abh?ngig sind. ?Unsere Modellierungen haben gezeigt, dass die Stromproduktion in ?thiopien die Wasserverfügbarkeit in Kenia langfristig nicht einschr?nkt, h?chstens tempor?r?, erkl?rt Burlando. ?Viel risikobehafteter ist hingegen die Wasserentnahme für landwirtschaftliche Grossprojekte.? Für die Stromproduktion wird das Wasser lediglich gespeichert und durch Turbinen geleitet, was zwar den natürlichen Flussverlauf und die aquatischen ?kosysteme ver?ndert, aber keine Auswirkungen auf die Gesamtmenge des Wassers hat – anders als bei der Bew?sserung. Zu einer L?sung des Konflikts oder einer institutionalisierten Koordination kam es nicht. ?Doch schon allein, dass die beiden L?nder auf Ebene der technischen Dienste gemeinsam an einem Tisch sassen und miteinander über konkrete Management-Szenarien und L?sungen für Nutzungskonflikte diskutierten, war für uns ein Erfolg.?

Das Programm ?Master of Advanced Studies in Sustainable Water Resources? richtet sich vor allem an Studierende aus dem globalen Süden mit einem Masterabschluss, die sich spezifisches Wissen für das integrierte Wassermanagement in ihren Herkunftsl?ndern aneignen wollen. Das Programm wird vom Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich angeboten.

Bessere Koordination

Im EU-Folgeprojekt ?GoNEXUS? sollen die Erfahrungen aus DAFNE nun nicht nur auf der Skala von Wassereinzugsgebieten, sondern auch für den kontinentalen und sogar globalen Massstab angewendet werden. Dafür werden bis 2025 acht Fallbeispiele in Europa und Afrika bearbeitet, mit besonderem Fokus auf die Abh?ngigkeiten zwischen Wasser, Ern?hrung, Energie und ?kosysteme. Burlandos Forschung ist aber auch für die Schweiz und deren Energiestrategie wertvoll. Im Rahmen des ?Swiss Competence Center for Energy Research? hat der Forscher unter anderem Modellierungen für das Maggia-Flusssystem im Tessin mit vier Staumauern und mehreren Pumpspeicherkraftwerken durchgeführt. ?Wir konnten für die Maggia zeigen, dass sich die Stromproduktion erh?hen liesse, wenn das Ablassen der gesetzlich geforderten Restwassermengen aus den Stauseen besser koordiniert würde.?

Burlando ist sich durchaus bewusst, dass für die praktische Umsetzung eines integrierten Wassermanagements die technisch-wissenschaftliche Expertise allein nicht ausreicht. Es brauche auch den politischen Willen dafür. Er ist jedoch überzeugt, dass die Politik gut beraten w?re, den Ingenieurinnen und Ingenieuren manchmal etwas besser zuzuh?ren. ?Wir k?nnen durchaus helfen, Kompromisse zu finden, die im ?ffentlichen Interesse liegen.?

Zu den Personen

Robert Boes ist Professor für Wasserbau und Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich.

Paolo Burlando ist Professor für Hydrologie und Wasserwirtschaft am Institut für Umweltingenieurwissenschaften am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich.

?Globe? Wasser

Globe 23/02 Titelblatt: Vier Arme spielen mit Eiswürfeln

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/02 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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