Bär-Mensch-Koexistenz neu gedacht

Medienaufruhr über Wolfsrisse in der Schweiz und eine B?r-Attacke in Italien zeigen, wie aufgeladen das Thema der Koexistenz von Grossraubtieren und Menschen in Europa ist. ETH-Forscherin Paula Mayer hat nun am Beispiel des Apennin-Braunb?ren ein partizipatives Modell entwickelt, das die Mensch-B?r-Koexistenz unterstützen soll.

Ein Mann hockt in einer Wiese und beobachtet Bären.
Ein Mann beobachtet einen B?ren: Beide nutzen denselben Lebensraum, aber mit einer anderen Sichtweise auf die Ressourcen. (Bild: Paula Mayer)

In Kürze

  • Eine ETH-Forscherin erstellt das erste Modell, das die Koexistenz von Mensch und B?r in einer Nationalparkregion Italiens auf einer Landkarte abbildet.
  • Als Werkzeug für die Praxis identifiziert das Modell Massnahmen und Gebiete, die vorrangig sind für die F?rderung der Koexistenz von Mensch und B?r.
  • Das Modell wird auf den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise angewendet, kann aber auch für  andere Regionen und Grossraubtiere genutzt werden.

Keine zwei Fahrstunden von der Millionenstadt Rom entfernt lebt noch immer Meister Petz. Etwa 70 Exemplare des Marsischen oder Apennin-Braunb?ren, einer Unterart des Europ?ischen Braunb?ren, gibt es aktuell. Noch. Der Bestand konnte sich zwar dank verbessertem Schutz, Aufkl?rungsarbeit und pr?ventiven Massnahmen zur Verhinderung von Sch?den, die das Tier gelegentlich anrichtet, halten und in jüngerer Zeit sogar leicht vergr?ssern.

Aber noch immer kommen die vom Aussterben bedrohten B?ren auf Autobahnen um, oder sie sterben an Giftk?dern, die Trüffelsucher für die Spürhunde konkurrierender Pilzsucher auslegen. Und nicht überall in seinem Streifgebiet zeigt die Bev?lkerung Verst?ndnis für das Grossraubtier.

Karte identifiziert Koexistenzgebiete

Paula Mayer kam deshalb auf die Idee, in ihrer Masterarbeit die Koexistenz zwischen Menschen und B?r in der Region rund um den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise in einem Modell zu erfassen und auf einer Karte abzubilden.

Diese Karte soll lokale Beteiligte – Beh?rden, Naturschützer:innen, Landwirt:innen und Touristiker:innen – dabei unterstützen, Gebiete und Massnahmen zu identifizieren, die vorrangig sind für die F?rderung der Koexistenz von Menschen und B?r.

?Diese Arbeit ist der Versuch, rational auf die Landschaft zu schauen und herauszufinden, wo und unter welchen Umst?nden Koexistenz zwischen Menschen und Grossraubtier gelingt und wo nicht?, erkl?rt Mayer. Ihre Betreuerin, ETH-Professorin Adrienne Grêt-Régamey, ermunterte die Forscherin dazu, die Methodik ihrer Arbeit in eine wissenschaftliche Publikation zu überführen. Diese ist soeben im ?Journal for Conservation Biology? erschienen.

21 Gemeinden ausgewertet

Paula Mayer hat mit ihrem Modell Karten für insgesamt 21 Gemeinden, die im und um den Abruzzen-Nationalpark liegen, erstellt. Exemplarisch hat sie drei Gemeinden ausgew?hlt und genauer analysiert.

W?hrend die eine Gemeinde gegenüber dem Grossraubtier positiv eingestellt ist und die B?r-Mensch-Koexistenz sehr wahrscheinlich gut m?glich ist, ist das friedliche Nebeneinander in einer der untersuchten Gemeinden eher unwahrscheinlich. ?Das h?ngt unter anderem davon ab, ob die Bewohner:innen einer Gemeinde schon seit langem in Kontakt mit B?ren waren, oder ob sie das Tier nur vom H?rensagen kennen.? Erstaunt habe sie, dass in teilweise nur wenige Kilometer voneinander entfernten Gemeinden oft unterschiedliche Meinungsbilder über die B?ren herrschten. Dies h?nge meist von einzelnen Meinungsmachern ab, die (Falsch-)Informationen verbreiteten.

Die Koexistenz-Frage wird auch davon beeinflusst, ob die Menschen einer Gemeinde von eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen abh?ngig sind oder ihr Auskommen im Tourismus oder ausw?rts finden, betont die Forscherin. ?Tourismusgemeinden k?nnen sogar von den B?ren profitieren, da sich im Abruzzen-Nationalpark ein regelrechter Wildtiertourismus entwickelt hat.? Dort werden auch Gelder investiert, um Abfallentsorgung, Obstkulturen und Nutztierhaltung b?rensicher zu machen. Anders in l?ndlich gepr?gten Kommunen, wo pr?ventive Schutzmassnahmen oft hinterherhinken. ?Wer nur zehn Schafe besitzt, und ein B?r reisst eines davon, sieht sich in seiner Existenz bedroht?, erkl?rt Mayer.

Ein globales Problem

Das ?Grossraubtierproblem? sei überall dieselbe, ist die Forscherin überzeugt. Es handle sich meist um einen Stadt-Land-Konflikt, der mit Emotionen und mit viel Symbolik, die auf das Tier projiziert werde, aufgeladen sei. ?Allerdings geht es dabei vielmehr um zwischenmenschliche Dinge und Kontrolle, das Wildtier steht da nur als Symbol dazwischen.?

Die Frage sei, welche Massnahmen es vor Ort braucht, damit die B?r-Mensch-Koexistenz gelingen kann. Ein wichtiger Faktor, den Mayer aus Interviews mit der lokalen Bev?lkerung heraush?rte, ist, dass die staatlichen Kompensationszahlungen rascher und unbürokratischer ausbezahlt werden sollen – oder dass überhaupt welche fliessen. ?Manche Menschen sind wütend, weil sie für Sch?den, die einzelne B?ren anrichten, trotz gegenteiliger Versprechungen nie entsch?digt wurden.?

Ein Werkzeug für die Praxis

Das Modell respektive die damit erzeugten Koexistenz-Karten sind ein Werkzeug für die Praxis. Es eignet sich beispielsweise zu überprüfen, wie sich die B?r-Mensch-Koexistenz in der Landschaft über die Zeit ver?ndert. Mit dem Modell l?sst sich auch testen, ob Massnahmen lokal wirken.

?Wenn das Modell eine Karte ausgibt, die trotz Massnahmen wie Z?unen, die Bienenst?cke vor den B?ren schützen sollen, Zonen niedriger Koexistenz aufweist, kann man auf die Wirksamkeit der Massnahme schliessen – und ob es an jenem Ort bessere gibt, die die Koexistenz f?rdern?, sagt Mayer. ?Das l?sst sich mit dem Modell bestens überprüfen oder sogar vorhersagen.?

Um die Karten zu berechnen, braucht es auch keinen leistungsstarken Grosscomputer. Die ETH-Wissenschaftlerin hat die aktuellen Karten auf ihrem Laptop rechnen lassen.

Netzwerk mit vielen Knoten

Um dieses vielschichtige Problem anzugehen, verwendete Mayer ein Bayesisches Netzwerk. Solche Netzwerke funktionieren mit bedingten Wahrscheinlichkeiten und k?nnen eine Vielzahl verschiedener Faktoren berücksichtigen und miteinander verknüpfen.

Mayers Modellansatz berücksichtigt Faktoren, die sowohl die menschliche Perspektive vertreten als auch die Bedürfnisse des B?ren widerspiegeln. Dabei k?nnen diese Variablen mit ?rtlich expliziten Informationen aktualisiert werden. Um diese Informationen zu erhalten, arbeitete sie mit Fachleuten aus Naturschutz, Tourismus und Forschung zusammen und führte Interviews mit der lokalen Bev?lkerung.

Die B?renperspektive wird unter anderem repr?sentiert durch Faktoren wie geeigneter Lebensraum und Wanderkorridore, aber auch, ob attraktive menschgemachte Nahrungsressourcen vorhanden sind, wie nicht b?rensichere Abfallentsorgung, Obstg?rten oder Nutztierhaltungen. Dies beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass B?ren in und um Siedlungen auftreten k?nnen.

Vergr?sserte Ansicht: Landschaft aus der Perspektive des Bären (links), des Menschen (r.) und errechnete Karte der Bär-Mensch-Koexistenz (Mitte). Rot: geringe Koexistenz-Chancen, grün: hohe Koexistenzmöglichkeiten.
Landschaft aus der Perspektive des B?ren (links), des Menschen (r.) und errechnete Karte der B?r-Mensch-Koexistenz (Mitte). Rot: Zonen mit geringer Koexistenz-Wahrscheinlichkeit. Grün: hohe Koexistenz-Wahrscheinlichkeit. (Grafik: aus Mayer P, et al., Journal for Nature Conservation, 2023)

Das Modell erfasst auch Bedrohungen für B?ren, wie nicht eingez?unte Strassen- und Eisenbahnabschnitte oder Gebiete, die durch Touristen und Touristinnen stark gest?rt werden. Die menschliche Perspektive wird beeinflusst durch Netzwerkknoten wie verschiedene Typen landwirtschaftlicher Nutzung, Jagd und Trüffelsammeln aber auch durch Gemeindepolitik, Schadenskompensation, Wissen und Emotionen in Hinsicht auf die B?ren.

All diese Knoten verknüpft das Modell und berechnet eine Karte. Diese deckt die Gebiete auf, wo die Mensch-B?r-Koexistenz am besten funktioniert. Zonen also, wo sowohl die Toleranz der Menschen hoch und die Lebensbedingungen für die B?ren gut sind, aber auch jene Gebiete, wo schlechtere Bedingungen herrschen. ?Dieses Modell ist sehr gut geeignet, um das komplexe Geflecht von Abh?ngigkeiten, die der Koexistenz von Grossraubtieren und Mensch zugrunde liegen, abzubilden?, sagt Mayer.

Die Netzwerkknoten sind darüber hinaus beliebig erweiterbar; in anderen Zusammenh?ngen k?nnen Knoten entfernt, ersetzt und neue hinzugefügt werden. Das Modell l?sst sich also relativ einfach anpassen und auf andere F?lle zuschneiden – etwa auf andere Regionen oder Tierarten wie den Wolf. ?Entscheidend ist dabei die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, um die spezifischen Informationen aus dem lokalen Kontext in das Modell einfliessen zu lassen?, erkl?rt die Forscherin.

Auf das Thema gestossen ist Paula Mayer w?hrend eines Berufspraktikums im Rahmen ihres Umweltnaturwissenschaftsstudiums an der ETH. Für die Naturschutzorganisation ?Rewilding Apennines? arbeitete sie in einem Projekt, das zum Ziel hat, die Koexistenz von Menschen und des Marsischen Braunb?ren und anderen Wildtieren im Zentralapennin zu f?rdern.

Literaturhinweis

Mayer P, Grêt-Régamey A, Ciucci P, Salliou N, Stritih A. Mapping human- and bear-centered perspectives on coexistence using a participatory Bayesian framework. Journal for Nature Conservation 73 (2023) 126387, doi: externe Seite10.1016/j.jnc.2023.126387.

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