ETH setzt auf Computer als zusätzliche Mathe-Tutoren
Hunderte ETH-Studierende besuchen jedes Jahr Vorlesungen zu den Mathematik-Grundlagen. Neu setzen Dozierende auf ?bungssequenzen am Computer. Ein Interview über das Potenzial einer neuen Methode, die fast zwei Jahrzehnte ben?tigte, um sich durchzusetzen.
(Bild: ETH Zürich)
Die ETH z?hlt immer mehr Studierende – und bei allen geh?ren Mathematikvorlesungen zum Studienplan. Allerdings stagniert die Zahl der Dozierenden und Assistierenden, welche ?bungen betreuen, gel?ste Aufgaben korrigieren und Feedbacks geben k?nnen. Dabei ist Repetition und ?bung bei den Mathematik-Grundlagen zentral.
Einige Dozierende stellen deshalb ihre Vorlesungen und ?bungen auf computerbasierte ?bungen um. Meike Akveld und Andreas Steiger geben Grundlagen-Vorlesungen am Departement Mathematik und haben eine grosse Sammlung von Mathematik-Fragen und einen Integral-Trainer erarbeitet. Sie basieren auf einem speziellen Fragetyp für mathematische Ausdrücke für die Lernplattform “Moodle”, den sogenannten Stack-Fragen.
ETH-News: Frau Akveld, Herr Steiger, Mathematik am Computer zu üben, das klingt für mich als Laien eigentlich naheliegend. Was steckt hinter der Neuerung?
Akveld: Das mag auf den ersten Blick schon unspektakul?r klingen, aber das Ding ist kein Taschenrechner. Dank den Stack-Fragen k?nnen wir den Studierenden Fragen stellen, die sie mit mathematischen Ausdrücken, zum Beispiel mit Polynomen, beantworten k?nnen. Das Programm prüft zuerst die Syntax, also die ?Rechtschreibung? der Ausdrücke und korrigiert danach die L?sung auf Knopfdruck, inklusive Feedback zu gemachten Fehlern.
Wo liegen die Herausforderungen bei einem solchen System?
Steiger: Die Komplexit?t steckt in der Didaktik. Etwa in der Art und Weise, wie wir Aufgaben gliedern k?nnen. Mit Stack k?nnen wir Teilschritte bewerten. Dieses Aufbauende, dieses ?Schritt-für-Schritt?, das in der Mathematik so wichtig ist und traditionellerweise an der Wandtafel geschieht, das l?sst sich in Stack gut nachbilden. Ein solches System zu bauen, brauchte Zeit und Erfahrungen. 2005 wurde es zum ersten Mal vorgestellt, jetzt scheint es in der Breite angekommen zu sein.
Was führte zum Durchbruch?
Steiger: Die Pandemie hat dem Schub verliehen, weil ganz viele Leute pl?tzlich Aufgaben in Stack geschrieben und begonnen haben, diese zu teilen. Und das System ist sehr benutzerfreundlich geworden.
?In einer Vorlesung mit 700 Studierenden ist ein Tool, mit dem die Studierenden individuell genau das üben k?nnen, was sie ben?tigen, extrem willkommen.?Andreas Steiger
Was haben die Studierenden davon?
Steiger: Mathematik-Grundlagen muss man vor allem üben. Mit den Stack-?bungen k?nnen das Studierende beliebig oft und wann immer sie wollen tun. Und die erhalten sofort Feedback. Das st?sst auf grossen Anklang. Wir sehen das in den Feedbacks zu den Kursen aber auch in den Statistiken: Die Studierenden üben oft und viel damit.
Akveld: …und das wiederum hilft uns Dozierenden: Je mehr sie üben, desto besser sehen wir, wo die Studierenden Fehler machen. Mit Stack kommen alle diese Informationen zentral zusammen und anhand der Analysen k?nnen wir spezifische Tipps und Hinweise in die ?bungen einbauen.
Zus?tzlich zur Fragen-Sammlung haben Sie einen Integraltrainer entwickelt. Weshalb?
Steiger: Beim Integrieren sehen wir grosse Niveauunterschiede. Je nach Schwerpunktfach im Gymnasium und je nach Erfahrung haben das manche Studienanf?nger im Griff, andere brauchen noch ?bung. In einer Vorlesung mit 700 Studierenden ist ein Tool, mit dem die Studierenden individuell genau das üben k?nnen, was sie ben?tigen, extrem willkommen.
Wie funktioniert der Trainer?
Steiger: Mit dem Integraltrainer k?nnen die Studierenden die verschiedenen Techniken, die man dazu beherrschen muss, zuerst einzeln und so oft wie n?tig üben, mit Hilfestellungen in Form von Hinweisen oder automatisierten Feedbacks. Am Schluss erhalten sie offenere Aufgaben, bei denen sie die richtige Technik w?hlen und dann anwenden müssen. Wir haben uns den Aufbau der ?bungen und die Hilfestellungen überlegt und den Trainer mithilfe von Stack dann programmiert. Wir konnten damit zeigen, dass man mit diesem Tool nicht nur einfach ?bungssammlungen digitalisieren, sondern eigentliche Trainings mit spezifischem Aufbau und Abl?ufen bauen kann.
K?nnte das Tool auch ausserhalb der ETH Anwendung finden?
Steiger: Ja, es kommen auch Anfragen von Mittelschulen in der Schweiz und aus dem Ausland. Rund um die Stack-Fragen gibt es eine sehr aktive Community, das Ganze ist Open Source (der Quellcode ist ?ffentlich, Anm. d. Red.) und der Austausch ist sehr intensiv und schnell. Der Vorteil an den Stack-Fragen ist, dass man sie sehr einfach teilen kann. Wir profitieren davon, was andere erarbeiten.
Wo steht die ETH international in der Verwendung von Stack?
Steiger: Wir haben erst vor kurzem mit STACK angefangen, haben mit dem Integraltrainer aber schon auch Interesse geweckt. Ganz vorne dabei ist die University of Edinburgh, wo Chris Sangwin, der Entwickler von Stack, lehrt. Die Open University, eine Fernuniversit?t, verwendet das Tool auch intensiv. In vielen L?ndern gibt es Kooperationen von Universit?ten, die gemeinsam Datenbanken mit Mathematik-Aufgaben für Stack aufbauen. Bayern will Stack bald bei Gymnasien einführen. Das Thema nimmt gerade richtig Fahrt auf.
?Ich kann mit dem Tool didaktische Ideen umsetzen, die ich schon lange mit mir herumtrage und die dazu beitragen sollen, Mathematik für alle zug?nglich zu machen.?Meike Akveld
Kann man das Tool auch für Prüfungen einsetzen?
Akveld: Ja, soeben haben Studierende des ersten Jahres in einem Analysis-Kurs die erste Prüfung mit Stack abgelegt. Stack k?nnte für Mathematik-Prüfungen an der ETH recht entscheidend werden, denn wir haben immer mehr Studierende, die wir prüfen müssen, k?nnen aber mit dem Personal nicht nachziehen. Die konventionelle L?sung w?re gewesen, mehr Multiple-Choice-Prüfungen zu machen, denn die lassen sich auch automatisiert korrigieren. Multiple Choice ist aber beschr?nkt in dem, was sich abfragen l?sst. Mit Stack behalten wir mehr Freiheiten in der Aufgabengestaltung, k?nnen Prüfungen aber trotzdem automatisch auswerten. Zudem ist die Durchführung einfacher, weil dank Randomisierung jeder Studierende Aufgaben mit spezifischen Werten erh?lt.
Wo hat die Methode ihre Grenzen?
Steiger: Mit Stack k?nnen wir Dinge prüfen oder üben, die nach mathematischen Ausdrücken fragen. Und das ist vor allem bei Grundlagen der Fall. Im Mathematikstudium geht es dann vielmehr um eine Denkweise und Begriffe, und wie sie zusammenh?ngen. Dafür ist Stack weniger gut geeignet als für Rechnungsaufgaben, wie wir sie bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern stellen.
Wie ver?ndert die Methode Ihre Kurse?
Akveld: Die Studierenden bleiben dadurch aktiver. Es gibt in der Vorlesung immer Sequenzen, in denen ich L?sungsmethoden für bestimmte Probleme herleite. Das Vortragen dieser Sequenzen ist weder für die Dozierenden noch für die Studierenden besonders spannend. Solche Sequenzen kann ich mit Sequenzen in Stack ersetzen, bei denen die Studierenden die L?sungsmethode mit Hilfestellungen Schritt für Schritt selber durchspielen. Sie verstehen dadurch oft leichter, als wenn sie bei mir abschauen.
Wir erinnern uns alle an das beklemmende Gefühl aus dem Mathe-Unterricht, wenn man in der H?lfte der Herleitung auf der Wandtafel h?ngen bleibt…
Akveld: Genau – und dann schreiben Sie nur noch mit und verstehen es gar nicht. Wenn ich stattdessen ein Lernmodul mit Stack-Fragen für zuhause anbiete, drücken Sie einfach ?refresh? und beginnen nochmals, bis Sie es verstehen. Wenn ich den Studierenden zur Vorbereitung Stack-Fragen biete, kann ich zudem Tipps und Hilfestellungen einbauen an den Stellen, wo sie erfahrungsgem?ss oft Fehler machen. Und wenn sie dann vorbereitet in den Unterricht kommen, kann ich die Vorlesungszeit besser nutzen, um ein tieferes Verst?ndnis der Materie zu erreichen.
Sie investieren viel Zeit in diese Methode. Was motiviert Sie?
Akveld: Ich kann mit dem Tool didaktische Ideen umsetzen, die ich schon lange mit mir herumtrage und die dazu beitragen sollen, Mathematik für alle zug?nglich zu machen. Ich bin überzeugt, dass das Verst?ndnis in der Mathematik mit jeder gel?sten ?bung w?chst. Es braucht viel individuelle Auseinandersetzung. Und dafür ist Stack ein gutes Hilfsmittel.
Steiger: …ja, es ist meine Aufgabe, m?glichst viele Studentinnen und Studenten m?glichst weit zu bringen. Und weil sie so unterschiedlich sind, brauchen wir sehr unterschiedliche Mittel und Methoden. Ich m?chte allen die M?glichkeit geben, die für ihr Fach notwendige Mathematik zu verstehen. Stack ist eine M?glichkeit mehr, genau das zu erreichen.