Ein Navigationssystem gegen Lieferengpässe bei Medikamenten

Ein neues Modell von ETH-Forschenden misst in Echtzeit, wie flexibel Vertriebssysteme für Medikamente sind. Es zeigt, dass Versorgungsengp?sse abgeschw?cht werden k?nnten, wenn Medikamentengrossh?ndler ihre Lagerhaltung koordinieren und knappe Produkte m?glichst flexibel entlang bestehender Lieferketten umleiten.

Bild eines Distributionszentrums
Die Koordination zwischen Distributionszentren k?nnte dabei helfen, Versorgungsengp?sse bei Medikamenten abzuschw?chen. (Bild: Keystone)

In Kürze

  • ETH-Forschende haben ein Modell entwickelt, das in Echtzeit misst, wie anpassungs- und widerstandsf?hig ein Vertriebssystem ist.
  • Anhand umfangreicher Logistikdaten zum Vertrieb von Opiaten in den USA konnten sie zeigen, dass Lieferengp?sse hinausgez?gert werden k?nnen, wenn H?ndler die Lieferung von Restbest?nden koordinieren.
  • Das Modell der ETH-Forschenden kann Aufsichtsbeh?rden in Europa helfen, die Lieferketten von stark nachgefragten Medikamenten besser zu überwachen und deren Resilienz frühzeitig zu st?rken.

Lieferengp?sse bei Medikamenten stellen die Gesundheitssysteme weltweit vor grosse Herausforderungen. So sind in der Schweiz knapp 1000 kassenpflichtige Medikamente nicht lieferbar. Als zentrale Strategie gegen solche Engp?sse galt bisher die Diversifikation: Droht ein Medikament knapp zu werden, versuchen Medikamentengrossh?ndler alternative Produkte von anderen Herstellern und über andere Lieferketten auf dem Markt zu beschaffen. Doch allzu oft ist dies schwierig, da wegen knapper Arzneimittelrohstoffe kurzfristig gar keine Alternativen zur Verfügung stehen.

ETH-Forschende zeigen nun in einer Studie, die in der Fachzeitschrift externe SeiteScience Advances erschien, einen anderen Weg auf: Selbst wenn mehrere Grossh?ndler von einem Lieferengpass bei einem bestimmten Medikament betroffen sind, sind im Gesamtsystem der Medikamentendistribution meist noch genügend Medikamente vorhanden. Sofern die H?ndler knappe Medikamente m?glichst flexibel entlang bestehender Lieferketten umleiten, k?nnen Engp?sse hinausgez?gert und abgeschw?cht werden. Dafür sind vollst?ndig digitalisierte Distributionssysteme n?tig, in denen Aufsichtsbeh?rden und H?ndler die Medikamentenbest?nde in Echtzeit beobachten k?nnen und wissen, wo sich bestimmte Lieferungen befinden.

?Flexible, digitale Lieferketten führen zu einer effizienteren Verteilung knapper Güter. So k?nnen Versorgungsengp?sse bek?mpft werden, ohne dass dafür unbedingt sofort mehr produziert werden muss?, sagt Frank Schweitzer, Professor für Systemgestaltung an der ETH Zürich. Gemeinsam mit Wissenschaftler:innen seiner Forschungsgruppe hat er ein Modell entwickelt, das die Flexibilit?t pharmazeutischer Vertriebssysteme in Echtzeit misst und so deren Resilienz bestimmt. Das Modell kann Aufsichtsbeh?rden dabei helfen, Versorgungsengp?sse frühzeitig zu erkennen und die Resilienz von Vertriebssystemen zu st?rken.

Flexible Lieferketten

?Man kann sich das Vertriebsnetz für ein Medikament wie ein Strassennetz mit Kreuzungen vorstellen?, sagt Luca Verginer, einer der Mitautoren der Studie. Hersteller und Endabnehmer wie Apotheken und Krankenh?user sind meist über mehrere Grossh?ndler verbunden, die ihre Best?nde in Verteilzentren lagern. ?ber diese Knotenpunkte w?re es auch m?glich, Medikamente umzuleiten.

Vergr?sserte Ansicht: Illustration zur Lieferkette
Indem Grossh?ndler Restbest?nde knapper Medikamente umleiten, k?nnen Lieferengp?sse abgeschw?cht werden. (Bild: ETH Zürich)

Kommt es nun zu Engp?ssen bei der Produktion oder der Verteilung, k?nnen H?ndler ein knappes Medikament oder ein gleichwertiges Substitut auf einer alternativen Route an die Endabnehmer bringen – ?hnlich einem Navigationssystem, das bei einem Stau Umfahrungsrouten anzeigt.

Ungenutzte Lagerbest?nde des knappen Medikaments werden so besser verteilt. Dies hat den Vorteil, dass H?ndler keine neuen Gesch?ftsbeziehungen zu Produzenten und Verteilern aufbauen müssen. Sie nutzen lediglich bestehende Lieferketten effizienter. Eine weitere wichtige Quelle für Flexibilit?t im Vertriebssystem ist, dass H?ndler auch Zugang zu alternativen Produkten haben, die die gleichen Wirkstoffe wie das knappe Medikament enthalten.

Umfangreiche Opiatdaten aus den USA

Um ihr Modell zu entwickeln, haben die Forschenden das gesamte Vertriebssystem von Opiaten in den USA zwischen 2006 und 2014 untersucht. Die dafür n?tigen Logistikdaten stammen von der amerikanischen Drogenvollzugsbeh?rde DEA und wurden im Rahmen eines Gerichtsprozesses gegen den Medikamentenhersteller Purdue Pharma ver?ffentlicht. Die Daten enthalten über 40 Milliarden Verteilrouten zwischen Herstellern, H?ndlern und Endabnehmern.  

?Dieser Datensatz bietet einen noch nie dagewesenen ?berblick über den landesweiten Vertrieb eines stark nachgefragten und im Untersuchungszeitraum immer wieder knappen Medikaments?, erkl?rt Verginer. Auf der Grundlage dieser Daten ermittelten die Forschenden, wie gut verschiedene Lieferketten den Warenfluss aufrechterhalten konnten, indem sie bei Engp?ssen alternative, aber bereits vorhandene Distributionswege nutzten.

Kennzahl für Flexibilit?t und Resilienz

Das Ergebnis dieser Berechnungen ist eine Kennzahl für Flexibilit?t, die das Potenzial misst, alternative Lieferstrecken zu nutzen, um die Versorgung mit Medikamenten aufrechtzuerhalten. Je h?her diese Kennzahl ist, desto anpassungs- und widerstandsf?higer ist ein Verteilsystem bei Engp?ssen. So ergeben die Analyse der Forschenden beispielsweise, dass es in Zeiten, in denen die Flexibilit?t im amerikanischen Vertriebssystem für Opiate sehr hoch war, weniger Versorgungsengp?sse gab.

Die Forschenden zeigen zudem, dass Flexibilit?t auch ihren Preis hat: ?Flexible Lieferketten sind meist weniger direkt, da sie mehr Zwischenh?ndler einbeziehen. Dies macht den Vertrieb langsamer und erh?ht die Kosten?, sagt Schweitzer erg?nzt: ?Es besteht ein Zielkonflikt zwischen der Flexibilit?t und Resilienz eines Vertriebssystems und seiner betriebswirtschaftlichen Effizienz?. Das neue Modell der ETH-Forschenden kann Aufsichtsbeh?rden dabei helfen, diesen Zielkonflikt besser zu verstehen.    

Werkzeug für Aufsichtsbeh?rden

Obwohl das Modell anhand von Opiatdaten aus den USA entwickelt wurde, ist es auch für andere Vertriebssysteme relevant, wie ETH-Professor Schweitzer betont: ?Unser Modell würde zum Beispiel auch mit den umfassenden Produktdaten des European Medicines Verification System funktionieren, welche die Europ?ische Organisation für Arzneimittelprüfung bereits sammelt.? Die europ?ischen Aufsichtsbeh?rden k?nnten dadurch die Lieferketten von stark nachgefragten Medikamenten in Europa besser überwachen und deren Flexibilit?t und Resilienz frühzeitig st?rken.

Literaturhinweis

Amico A, Verginer L, Casiraghi G, Vaccario G, Schweitzer F: Adapting to disruptions: Managing supply chain resilience through product rerouting, Science Advances 2024, doi: externe Seite10.1126/sciadv.adj1194

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