Unterschätzte chemische Vielfalt
Ein internationales Forscherteam hat eine globale Bestandsaufnahme aller registrierten Industriechemikalien erstellt: Weltweit werden etwa 350'000 verschiedene Substanzen hergestellt und gehandelt, nicht wie bisher gesch?tzt nur 100'000. Von gut einem Drittel aller dieser Substanzen fehlen ?ffentlich zug?ngliche Informationen.
Die letzte Liste aller Chemikalien, die weltweit auf dem Markt erh?ltlich und in Umlauf sind, umfasste 100'000 Eintr?ge. Erstellt wurde sie kurz nach der Jahrtausendwende. Der Fokus lag auf den M?rkten in den USA, Kanada und Westeuropa. Das ergab damals noch Sinn, weil diese L?nder vor 20 Jahren für mehr als zwei Drittel des weltweiten Umsatzes von chemischen Substanzen aufkamen.
Globaler Markt
Das hat sich seither drastisch ge?ndert. Einerseits hat sich der Umsatz mehr als verdoppelt und ist im Jahr 2017 auf 3,4 Billionen Euro gestiegen. Andererseits beteiligt sich der globale Westen nur noch an einem Drittel des weltweiten Chemikalienhandels, w?hrend China allein 37 Prozent des Umsatzes bestreitet. ?Wir haben den Blick auf den globalen Markt ausgeweitet – und pr?sentieren zum ersten Mal eine umfassende ?bersicht aller weltweit erh?ltlichen Chemikalien?, sagt Zhanyun Wang, Senior Scientist am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich.
In Zusammenarbeit mit einem Team von internationalen Experten hat Wang die Daten von 22 Verzeichnissen aus 19 verschiedenen L?ndern und Regionen (einschliesslich EU) zusammengeführt. Die neue Liste umfasst 350'000 unterschiedliche Eintr?ge. ?Die uns nun bekannte chemische Vielfalt ist drei Mal gr?sser als vor 20 Jahren?, sagt Wang. Das liege vor allem daran, dass sie für ihre Arbeiten mehr Verzeichnisse berücksichtigt h?tten. ?Unsere neue Liste führt deshalb viele Chemikalien auf, die in Entwicklungs- und Transitionsl?ndern – oft unter begrenzter Aufsicht – registriert wurden.?
Vertrauliche Gesch?ftsinformationen
Die umfassende Liste allein kann keine Auskunft darüber geben, welche Chemikalien gef?hrlich und zum Beispiel sch?dlich für die Gesundheit oder die Umwelt sind. ?Unsere Bestandsaufnahme ist der allererste Schritt in der Charakterisierung der Substanzen?, sagt Wang. Frühere Arbeiten h?tten gezeigt, dass ungef?hr drei Prozent aller Chemikalien Anlass zur Beunruhigung geben. Wenn man diese Zahl auf die neue Vielfalt anwende, sei mit 6000 neuen potenziell problematischen Substanzen zu rechnen, meint Wang.
Weit erstaunter war Wang über den Umstand, dass ein gutes Drittel aller Chemikalien in den verschiedenen Verzeichnissen nur unzul?nglich beschrieben ist. Bei gut 70'000 Eintr?gen geht es um Mischungen und Polymere (wie etwa Petroleumharz), weitergehende Informationen zu den einzelnen Komponenten fehlen. Weitere 50'000 Eintr?ge betreffen Chemikalien, deren Identit?t als vertrauliche Gesch?ftsinformation gilt – und deshalb nicht ?ffentlich zug?nglich ist. ?Wie diese Substanzen beschaffen sind und wie bedrohlich oder giftig sie sind, wissen nur die Hersteller?, sagt Wang. ?Das hinterl?sst ein ungutes Gefühl wie bei einem Gericht, von dem man uns zwar sagt, dass es gut gekocht ist, aber nicht, was drin ist.?
Dringender Aufruf
Die Globalisierung und der weltweite Handel sorgen dafür sorgen, dass sich Chemikalien – im Gegensatz zu den nationalen Verzeichnissen – nicht an L?ndergrenzen halten. Daher müssten die verschiedenen Verzeichnisse unbedingt zusammengeführt werden, wenn die Menschheit auch in Zukunft den ?berblick über alle Chemikalien behalten will, die irgendwo auf der Welt hergestellt und dann gehandelt werden, merken Wang und seine Kollegen in ihrem in der Zeitschrift externe Seite Environmental Science & Technology ver??f?fent?lichten Beitrag an. ?Nur wenn wir unsere Kr?fte über L?nder und Disziplinen hinweg vereinen, schaffen wir es, mit der immer gr?sser werdenden chemischen Vielfalt zurechtzukommen?, sagt Wang.
Literaturhinweis
Wang Z, Walker GW, Muir DCG, and Nagatani-Yoshida K. Toward a Global Understanding of Chemical Pollution: A First Comprehensive Analysis of National and Regional Chemical Inventories. Environ Sci Technol. (2020) DOI: externe Seite 10.1021/acs.est.9b06379